Religiöser Raub?
- Wege und Irrwege christlich-jüdischer Gebetsgemeinschaft
von Hanspeter Heinz
In bester Absicht gestalten gerade um Ostern herum
immer häufiger christliche Gemeinde "Pessachfeiern" – vielen Juden aber
ist dieses ein Ärgernis. Welche Formen christlich-jüdischer
Gebetsgemeinschaft sind legitim, wann grenzen sie an religiöse
Enteignung oder Vereinnahmung? Nicht zuletzt bei der Vorbereitung einer
christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier für den Ökumenischen Kirchentag
in Berlin 2003 wurde diese Frage höchst kontrovers diskutiert.
Die jahrhundertealte "christliche" Judenverachtung und
Judenfeindschaft hat sich seit wenigen Jahrzehnten zu einem langwierigen
Versöhnungsprozess gewendet. Für diese Wende der Kirchen, die trotz
mancher Rückschläge nicht mehr rückgängig zu machen ist, stehen
insbesondere das Zweite Vatikanische Konzil und das Wirken Johannes
Pauls II. Für eine gute Entwicklung der christlich-jüdischen Beziehungen
weisen die Vatikanischen "Richtlinien und Hinweise für die Durchführung
der Konzilserklärung "Nostra aetate", Artikel 4" vom 1. Dezember 1974
einen vierfachen Weg: Dialog, Liturgie, Lehre und Erziehung, soziale und
gemeinschaftliche Aktion (Rolf Rentdorff und Hans Hermann Henrix (Hg.):
"Die Kirchen und das Judentum", Bd. L, Paderborn/München 21989, 48-53).
Dort heißt es: "Unter Umständen, die es möglich und auf
beiden Seiten erwünscht erscheinen lassen, empfiehlt sich auch eine
gemeinsame Begegnung vor Gott im Gebet und in der schweigenden
Betrachtung, die sich dahin auswirken wird, dass die Demut und die
Öffnung des Geistes und des Herzens entstehen, wie sie für eine tiefe
Erkenntnis des eigenen Ich und des anderen notwendig sind. Anlässe für
eine solche Gebetsgemeinschaft sind besonders große Anliegen wie
Gerechtigkeit und Frieden". Dieses Zitat beschließt den Abschnitt über
den Dialog, weil Gebetsgemeinschaft die Verständigung der Beteiligten
über Gemeinsamkeiten und Unterschiede voraussetzt.
Spielarten unreflektierter Verehrung des
Judentums
Auf der Suche nach berechtigten Formen von
Gebetsgemeinschaft gilt es insbesondere zwei Gefahren zu meiden. Die
eine ist der Philosemitismus, der aus Ablehnung von Judenfeindschaft
eine unkritische Annäherung an die Juden anstrebt und das unterscheidend
Christliche "rücksichtsvoll" ausklammert, um Juden nicht zu verletzen.
Solches Judaisieren ist in Wahrheit Vereinnahmung des Judentums durch
das Christentum; diese "abrahamitische Ökumene" liefe auf eine Auflösung
der jüdischen Minderheit in der christlichen Mehrheit hinaus.
Die entgegengesetzte Gefahr liegt in der Vorsicht, als
Christen der jüdischen Tradition nicht zu nahe treten zu wollen und
deshalb alle jüdischen Gebetselemente und Gebetsformen in der
christlichen Liturgie zu unterlassen. Dieser Abstand vom Judentum, der
nicht aus Verachtung wie die altkirchliche Häresie des Markion
geschieht, der den "rachsüchtigen Gott des Alten Testaments" mitsamt den
alttestamentlichen Schriften aus dem Christentum verbannen wollte,
sondern aus unerleuchteter Verehrung des Judentums, ist in Wahrheit
ebenfalls eine Spielart von Philosemitismus.
Vor einigen Jahren war ich in einer Vorstadt Chicagos zu
Gast in einer katholischen Gemeinde von Hispanics, Neubürgern
mexikanischer Herkunft. Das soziale Engagement dieser einfachen, armen
Leute hat mich ebenso beeindruckt wie die frohe und lebendige
Gemeinschaft bei ihren Gottesdiensten. Am Dienstag in der Karwoche lud
mich der Pfarrer zu einem "Sederabend" in die Kirche ein. Er erklärte
mir, die christlichen Familien sollten einmal im Jahr einen jüdischen
Gottesdienst erleben, wie ihn Jesus selbst Jahr für Jahr zu Beginn des
Pessachfestes begangen hat. Vor diesem Hintergrund würde die Gemeinde
das Gedächtnis des letzten Abendmahls am Gründonnerstag ganz anders
verstehen und mit allen Sinnen mitvollziehen.
In dem schlichten Gottesdienstraum mit einem großen
Kreuz hinter dem Altar waren Stühle und Tische für jede Familie
aufgestellt. Die Familie, die die Leitung der Feier übernahm, hatte sich
wochenlang mit großem Eifer vorbereitet. Der "Hausvater", ein
Analphabet, hatte mit Hilfe seiner lesekundigen Tochter seine Rolle
auswendig gelernt, auch die lange biblische Erzählung der Befreiung
Israels aus der Knechtschaft Ägyptens. Ebenso engagiert hatten die
Mutter und die Kinder ihre Rollen geübt.
Die Begeisterung dieser Familie übertrug sich auf alle
anderen. Das war nicht Theater, das war Leben – ein zweistündiger
Gottesdienst voller Dramatik, mit freudigem Gesang, eindrucksvollen
Symbolen und gespannter Aufmerksamkeit. In derselben Intention gestalten
auch in Deutschland immer häufiger Pfarrer mit ihrer Gemeinde
"Pessachfeiern", ebenso Lehrerinnen und Lehrer im Religionsunterricht,
um ihren Klassen erlebnis- und handlungsorientiert das jüdische
Pessachfest nahe zu bringen. Dies ist bei aller guten Absicht jedoch
äußerst problematisch (vgl. das Plädoyer von Clemens Leonhard,
"Pessachhaggada und Osternacht", Kirche und Israel 16, 2001, 45-47;
dagegen Gertrud Kellermann, Pessah-Feiern in christlichen Gemeinden,
Anzeiger für die Seelsorge 109, 2000, 132).
Von besonderer Bedeutung für die jüdisch-christlichen
Beziehungen sei die Erkenntnis der gemeinsamen Elemente des liturgischen
Lebens, von Gebetstexten, Festen, Riten usw., heißt es in den
Vatikanischen Richtlinien von 1974. Und der Artikel Liturgie des
Lexikons der Jüdisch-Christlichen Begegnung (Jakob J.
Petuchwoski/Clemens Thoma, Freiburg/Brsg. 1989, 227-229) erklärt die
Neubesinnung der Kirche auf ihre jüdischen Wurzeln müsse der Tatsache
Rechnung tragen, dass die christliche Liturgie "im weiteren Umkreis des
Tempelkultes im näheren Kontakt mit dem Synagogengottesdienst und in der
geisterfüllten Nachfolge Christi entstanden [ist] ... Ein ordnendes
Leitmaß für die Christen bildete bis ins 2./3. Jahrhundert hinein das
Wissen um jüdische Gebetsformen: auch nach der Trennung von Kirche und
Synagoge orientierte man sich in den christlichen Versammlungshäusern
nach dem jüdischen Vorbild, vor allem bei der Gestaltung des
Wortgottesdienstes".
Christliche Pessachfeiern – ein Ärgernis für die
Juden
Für die Wiederentdeckung der jüdischen Liturgie
empfiehlt sich vor allem das Pessachfest. Es ist ein Familienfest, weil
als häusliche Feier entstanden (Ex 12,3f.); die Gestaltung bezieht auch
ausdrücklich die Kinder ein. "Im nachbiblischen jüdischen Festkalender
fangen alle Sabbate und Feierlichkeiten mit dem Sonnenuntergang am
Vorabend an ..., und die Hauptfeier zum Anfang des Sabbats und der
Festtage findet im Familienkreis ... bei der Abendmahlzeit statt"
(Lexikon der Jüdisch-Christlichen Begegnung, Art. Abendmahl/Seder).
Die erste vollständige Beschreibung der Feier am
Vorabend des Pessachfestes findet sich im 10. Kapitel des
Mischna-Traktates Pesachim. Sie stammt aus dem 3. Jahrhundert, nimmt
aber auch älteres Material auf und war vermutlich in ähnlicher Form auch
schon zur Zeit Jesu üblich. Selbst wenn die Frage, ob das Abendmahl Jesu
eine Sederfeier war oder nicht, offen bleibe, bestehe doch kein Zweifel
darüber, dass schon die frühe Kirche das Abendmahl durch das Prisma von
Pesach- / Pascha-Motiven gesehen habe (vgl. 1 Kor 5,7-8).
Wenn aber heute christliche Gemeinden und Schulklassen
eine Pessachfeier bzw. einen Sederabend feiern, ist das ein schlimmer
Missbrauch und ein Ärgernis für Juden und ihre christlichen Freunde. Die
Berufung auf die Gebetstradition Jesu und seiner Jünger, auf die
Jerusalemer Urgemeinde, die selbstverständlich am Tempelgottesdienst
teilnahm (vgl. Apg 2,46), und auf Paulus, der am Sabbat zum
Synagogenvorsteher zur Wortverkündigung aufgefordert wurde (vgl. Apg
13,4-52), folgt einer anachronistischen Argumentation. Denn wir leben
nicht mehr in der Anfangszeit einer Symbiose der Jesusgemeinde mit
anderen jüdischen Gruppen. Im Laufe der ersten Jahrhunderte hat sich das
Christentum als selbständige Religion vom Judentum getrennt, und nach
menschlichem Ermessen werden sie auf Dauer getrennte
Religionsgemeinschaften bleiben, deren Gegensätze sich nicht miteinander
vereinbaren lassen.
Deshalb ist die Vermischung der Gottesdienste religiöser
Raub – wenn man weiß, was man tut. Schon heutige Judenchristen, die sich
als "Hebrew Christians" oder "Jews for Jesus" bezeichnen, sind den
meisten Juden ein Ärgernis. Diese kleinen Gemeinschaften in Israel, die
die Liturgie in hebräischer Sprache feiern, etliche jüdische Bräuche in
ihre Liturgie übernehmen, ihre Solidarität und Treue zum Volk und Staat
Israel bekennen, sich aber für bessere (weil "erfüllte") Juden halten,
werden als Menschen angesehen, die das authentische Judentum verleugnen
und eine unerlaubte Vermischung beider Religionen vornehmen.
Wegweisend ist die Orientierungshilfe "Pessach im
Religionsunterricht", die der Erzieherausschuss der Gesellschaft
Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Karlsruhe für den Religionsunterricht
1998 veröffentlicht hat, um mit geeigneten didaktischen Methoden Schüler
das jüdische Pessachfest anschaulich zu lehren, aber der Versuchung zu
widerstehen, mit einer Klasse ein Seder-Mahl oder etwas Ähnliches zu
feiern im Respekt vor dem Glauben anderer. Solche Rücksichtsnahmen
dürften nicht vordergründigen handlungsorientierten Unterrichts-Zielen
geopfert werden, da sonst der Zweck der Beschäftigung mit dem Judentum
verfehlt würde.
Die Jom-Kippur-Glückwunschadresse von Bischof
Stimpfle
Bis heute weigern sich viele Juden, am christlichen
Gottesdienst teilzunehmen. Dies hat eine lange Geschichte. Christen
sollten Juden nicht zur Teilnahme am christlichen Gottesdienst drängen,
er gelte vielen Juden als "Fremdkult" heißt es im Lexikon der
Jüdisch-Christlichen Begegnung. Wohl aber könnten Christen sich zu
jüdischen Gottesdiensten einladen lassen. Das war keinesfalls immer so,
es ist eine neue Entwicklung in allen Zweigen des modernen Judentums,
außer bei den Ultraorthodoxen. Freilich kennt das Judentum schon zu
biblischen Zeiten eine beschränkte Zulassung von Nichtjuden zum eigenen
Kult.
Man denke an den "Vorhof der Heiden" im Salomonischen
Tempel oder an hohen Festtagen die Wallfahrt von "Proselyten" oder
"Gottesfürchtigen", um den Gott Israels in Jerusalem zu verehren (vgl.
Apg 2,11; 8,27). Ebenso kennt die Kirche seit alters die gestufte
Zulassung zum Gottesdienst, etwa von Taufbewerbern und Büßern. Die
Teilnahme an Fremdkulten hingegen war immer strikt verboten, galt auch
bei Christen als Abfall vom Glauben.
Ein einzigartiger Konflikt war stets die Spaltung einer
Religionsgemeinschaft, die die Aufkündigung der Gottesdienstgemeinschaft
einschloss (vgl. 1 Kön 26-33). Die Trennung der Tochterreligion von der
Mutterreligion zieht ähnlich erbitterte Feindschaften und rigorose
Trennungen nach sich wie ernste Familienkonflikte. Ein anschauliches
Beispiel ist die Spaltung der Abendländischen Kirche in der
Reformationszeit. So untersagte der Codex Iuris Canonici von 1917 im
Kanon 1258: "Den Gläubigen ist es nicht erlaubt, in irgendeiner Weise
aktiv den liturgischen Feiern von Nichtkatholiken beizuwohnen oder an
ihnen teilzunehmen. Geduldet werden kann eine passive bzw. rein
physische (mere materialiter) Präsenz aus bürgerlicher Verpflichtung
oder ehrenhalber, die wegen eines schwerwiegenden Grundes im
Zweifelsfall vom Bischof erlaubt werden kann, an einer Beerdigung, einer
Hochzeit oder einer ähnlichen Feier unter der Bedingung, dass keine
Gefahr einer Verfälschung des Glaubens und eines Ärgernisses gegeben
ist."
Damit war Katholiken bis in die frühe Nachkonzilszeit
grundsätzlich untersagt, bei einer protestantischen liturgischen Feier
mitzubeten und mitzusingen, erst recht im Kirchenchor oder als Organist
mitzuwirken; selbst der innere Mitvollzug des Herzens galt als
illegitim. Ebenso nahmen Protestanten selbstverständlich nicht an
katholischen Gottesdiensten teil. Von Besichtigungen abgesehen, betraten
Katholiken keine evangelische Kirche und umgekehrt. Eine besonders
delikate Amtshandlung war die kirchliche Trauung einer "Mischehe", die
mit vielerlei Restriktionen versehen war.
Diese Situation änderte sich erst mit der ökumenischen
und christlich-jüdischen Versöhnung, für die das Zweite Vatikanische
Konzil das herausragendste Ereignis war. Die nichtkatholischen Gäste und
Beobachter nahmen "selbstverständlich" an der täglichen Liturgie in der
Konzilsaula teil. 1963 sandte der soeben ernannte, aber noch nicht
geweihte Bischof von Augsburg, Josef Stimpfle, zum Yom Kippur eine
herzliche Glückwunschadresse an die Israelitische Kultusgemeinde. Das
wurde als ein so unerhörtes Ereignis gesehen, dass sein Telegramm nicht
nur im synogalen Gottesdienst unter verwunderter Begeisterung verlesen,
sondern unverzüglich auch den jüdischen Autoritäten in Israel und den
Vereinigten Staaten zugesandt wurde: Ein deutscher Bischof
beglückwünscht die Juden zu ihrem höchsten Festtag! Daraufhin wurde
Bischof Stimpfle zur Teilnahme am nächsten Gottesdienst eingeladen und
bald darauf als erster offizieller Gast aus Deutschland von der
Regierung Israels nach Jerusalem.
Dieser Vorgang ist bezeichnend: Freundschaftliche
Beziehungen und glaubwürdige Akte der Wertschätzung der jüdischen
Gemeinschaft und des Judentums öffnen Wege auch zur Teilnahme an
gottesdienstlichen Feiern. Daran ist nach wie vor nur eine Minderheit
von Juden und Christen interessiert, denen das gegenseitige Verhältnis
ein echtes Anliegen ist. Die Erklärung einiger jüdischer Gelehrter aus
den USA "Dabru Emet"
vom 11. September 2000 (vgl. HK Juli 2002, 340ff.) benennt deutlich
Grundlage und Grenzen jüdisch-christlicher Gebetsgemeinschaft: "Juden
und Christen beten den selben Gott an. Vor dem Aufstieg des Christentums
waren es allein die Juden, die den Gott Israels anbeteten. Aber auch
Christen beten den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von
Himmel und Erde an. Wenngleich der christliche Glaube für Juden keine
annehmbare Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen
darüber, dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine
Beziehung zum Gott Israels getreten sind" (Die Kirchen und das Judentum,
Bd. 2, 974).
Soweit diese keineswegs unumstrittene These von der
gemeinsamen Verehrung des Einen Gottes Israels auch von Juden bejaht
wird, sind erstaunliche Formen liturgischer Gastfreundschaft möglich und
sinnvoll. So beispielsweise bei einem einwöchigen Seminar von jüdischen
und christlichen Professoren, Studenten und Studentinnen aus Polen, den
USA und Deutschland im Herbst 2002 in Auschwitz: Die jüdischen
Teilnehmer luden die Christen am letzten Tag, einem Freitagabend, zum
Synagogengottesdienst und anschließenden Sabbatfeier ein. Das wurde zum
überraschenden und bewegenden Höhepunkt des Seminars, und das am Ort des
Grauens von Auschwitz.
Bei einem anderen Seminar der Universität Augsburg nahm
der jüdische Professor und Rabbiner Michael Signer aus Notre
Dame/Indiana die Einladung zu einer Eucharistiefeier an und entsprach
sogar der Bitte des katholischen Kollegen, den Gottesdienst mit dem
Aaronssegen zu beschließen. "Da ich bei euch dieselbe Nähe Gottes
wahrnehme wie bei einem jüdischen Gottesdienst, will ich mich dieser
Bitte nicht verschließen", erklärte er zuvor. Ein solcher Augenblick
kann nicht zur Regel werden, er setzt das Wunder der Begegnung im
Glauben voraus. Dennoch bleibt er eine Verheißung, welche
Gebetsgemeinschaft unter entsprechenden Voraussetzungen zwischen
Christen und Juden in Zukunft denkbar ist.
Über Religionsgrenzen hinweg wie andere beten (etwa
"christliche Seder-Feier") ist ein Irrweg. Juden bzw. Christen im
eigenen Gottesdienst mitbeten lassen ist hingegen ein legitimer Weg.
Eine der Voraussetzungen und Konsequenzen dieser liturgischen
Gastfreundschaft betrifft die Art, wie eine Gemeinschaft für die andere
betet und von ihr in der Liturgie spricht, auch wenn kein Gast anwesend
ist. So war es ein unerträgliches Ärgernis für Juden, das ihnen die
Wertschätzung und Teilnahme an der katholischen Liturgie verwehrte, wenn
bis 1970 am Karfreitag eine Fürbitte "für die treulosen (perfidi) Juden"
gesprochen wurde. Und was müssen Juden heute noch empfinden, wenn in der
christlichen Liturgie die Matthäus-Passion verlesen wird und sie den
wegen seiner blutigen Wirkungsgeschichte schrecklichen Vers hören: "Da
rief das ganze Volk: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Mt
27,25). Man kann diesen Satz zwar nicht streichen, aber hier müsste der
Priester oder Lektor unterbrechen und ein kommentierendes Wort gegen den
Vorwurf der Kollektivschuld sagen!
Das Modell "Assisi"
Im von den Vereinten Nationen ausgerufenen
"Internationalen Jahr des Friedens" 1986 ergriff Johannes Paul II. die
Initiative zu einem in der Geschichte der Religionen einmaligen Treffen.
Er lud Repräsentanten der Kirchen und Weltreligionen nach Assisi ein, um
für den Frieden zu beten. Sie kamen zusammen, um zu beten. Sie wollten
nicht "zusammen beten", das heißt sie sprachen nicht ein gemeinsames
Gebet, sondern waren zugegen, während die anderen beteten. So bekundeten
sie ihre Achtung für das Gebet der anderen und boten ein Zeugnis ihres
jeweiligen Glaubens. Im letzten Jahr hat der Papst zum zweiten Mal nach
Assisi zu einem Welttag des Gebets für den Frieden eingeladen. Alle
Vertreter der Religionsgemeinschaften verpflichteten sich, auf der
großen Baustelle des Friedens zu arbeiten und einander die Irrtümer und
Vorurteile in Vergangenheit und Gegenwart zu verzeihen (vgl. HK März
2002, 109ff.).
Seit Jahren ist diese Form des gemeinsamen Gebets der
Religionen um Gerechtigkeit und Frieden zum Modell geworden. Meist auf
Initiative von Sant’Egidio, einer jungen geistlichen Gemeinschaft aus
Rom, fanden in der gleichen Art Gebetstreffen mit hochrangiger
Beteiligung an vielen Krisenherden der Welt statt, beispielsweise
während des Jugoslawienkrieges. Weltweit und in allen Religionen ist das
"Modell Assisi" auf Zustimmung und Nachahmung gestoßen, abgesehen nur
von fundamentalistischen Gruppen, die jede andere Form der
Gottesverehrung als die eigene für verfehlt halten.
Die Formel von Assisi ("Zusammenkommen, um zu beten")
basiert jedoch auf einer anspruchsvollen Voraussetzung: dem
glaubwürdigen Bekenntnis aller Beteiligten zur Religion als
Friedensstifterin und der klaren Absage an jegliche Gewalt im Namen der
Religion. Wo diese unverzichtbare Bedingung nicht gegeben ist, wäre
nicht nur eine Gebetsversammlung, sondern auch jeder Dialog unmöglich.
Dann bleibt vorerst nur Raum für politische Verhandlungen, um
Schlimmeres zu verhüten. Aber können Juden und Christen nicht noch einen
Schritt weitergehen: "Zusammenkommen zum gemeinsamen Gebet", da sie zum
selben Gott beten, auch wenn ihr Gottesbild verschieden ist?
Christlich-jüdische Gemeinschaftsfeiern haben eine
jahrzehntelange Tradition seit dem Ökumenischen Pfingsttreffen in
Augsburg 1971, sowohl auf Katholikentagen, wie lange Zeit auch auf
Evangelischen Kirchentagen und bei vielen anderen Gelegenheiten. Sie
fanden bei den christlichen Teilnehmern eine außerordentlich starke
Resonanz, während jüdische Gemeinden sich meist zurückhaltend
verhielten. Sie wurden jeweils von einer christlich-jüdischen
Arbeitsgruppe vorbereitet und von den Liturgen (Landesrabbinern,
Kantoren und Bischöfen) mitgestaltet. Allerdings sollte an eine
Gemeinschaftsfeier nicht der hohe Anspruch von Liturgie gelegt und für
sie kein religiöser Raum (Kirche, Synagoge) gewählt werden. Wer sie
nicht akzeptierte, hat selbst nicht teilgenommen, ohne anderen die
Berechtigung zur Teilnahme abzusprechen.
Aufgrund der guten Erfahrungen hat der Gesprächskreis
"Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken den
Beschluss gefasst, die bewährte Tradition solle auf dem Ökumenischen
Kirchentag 2003 fortgeschrieben werden Einige jüdische Mitglieder des
Gesprächskreises haben sich allerdings der Stimme enthalten, weil sie
das Anliegen zwar unterstützen, aber selbst nicht an der Feier
teilnehmen werden.
"Beten in Anwesenheit des Anderen"
Anders verlief die mehrheitliche Meinungsbildung in der
jüdisch-christlichen Arbeitsgruppe des Deutschen Evangelischen
Kirchentags. In der ansonsten einmütigen Projektgruppe zur Vorbereitung
des Berliner Kirchentags prallten die Gegensätze zunächst unvermittelt
und heftig aufeinander, bis am Ende ein fairer Kompromiss zustande kam.
Ein erster Vorbehalt lautete, die Feier würde eine
Harmonie vortäuschen, die der gesellschaftlichen Realität nicht
entspricht; dabei wurde auf Gewalttaten gegen Juden und jüdische
Einrichtungen, Desinteresse der Bevölkerungsmehrheit am
christlich-jüdischen Versöhnungsprozess, (vermeintliches) Schweigen der
kirchlichen Autoritäten zur Eskalation des Nahost-Konflikts verwiesen.
Die Lösung fand sich im Vorschlag, als mitwirkende Bischöfe und Rabbiner
glaubwürdige Botschafter der Versöhnung zu wählen, die in ihren
Ansprachen auch die Situation unbeschönigt beleuchten sollen.
Der zweite Vorbehalt war grundsätzlicher Art: Christen
stehe es nicht an, biblische Gebete und Riten wie das Sch’ma Israel oder
den Aaronssegen, die Kernstücke der jüdischen Liturgie sind, im
christlichen Gottesdienst zu übernehmen. Dagegen wurde eingewandt, es
sei eine Besonderheit des Kultes, dass er Menschen zu Gebet und Feier
versammelt, die in ihren Glaubensüberzeugungen oft konträr zueinander
stehen. Diesem offenen Charakter unserer Gebetstraditionen widerspreche
es, wenn eine "Gruppe" der anderen streitig mache, ihre Gebets- und
Feierformen auf eine andere Weise zu rezepieren: Juden und Christen
beten dieselben Psalmen anders, verstehen das Vaterunser (das kein
ajüdisches oder antijüdisches Gebet ist), Aaronssegen oder das Sch’ma
Israel (Hauptgebot in beiden Religionen) anders.
Es wäre aber fatal, geprägte Gebete und
Symbolhandlungen, die der biblischen Tradition entstammen, exklusiv für
die eigene Religion zu beanspruchen. Doch sollte beim christlichen
Gebrauch jüdischer Gebete auf die biblische Quelle verwiesen werden.
Schließlich einigte man sich, nicht auf alle Texte und Gesten zu
verzichten, die den anderen befremden könnten, sich gleichsam auf den
kleinsten Nenner zu verständigen, sondern jedem Teilnehmer zuzutrauen
und zu überlassen, das individuelle Maß und die Form der inneren und
äußeren Teilnahme selbst zu finden. Auch ehrfurchtsvolles Schweigen
könne Ausdruck des Respekts sein.
Der dritte Einwand betraf die Struktur bisheriger
Gemeinschaftsfeiern: Sie seien ein Patchwork, eine Aneinanderreihung
jüdischer und christlicher Traditionsstücke. Deshalb solle man sich von
dieser Form verabschieden und lieber das Modell Assisi weiterentwickeln.
Darauf wurde erwidert, der Versuch, Elemente der jeweiligen Tradition in
einer sinnvollen Struktur zu ordnen, sei unverdächtig, assoziativ
Disparates nach Art vieler Praktiken "moderner Religiosität"
zusammenbasteln zu wollen. Der einmütige Kompromiss wurde schließlich
darin gefunden, nicht nach der sogenannten Lima-Liturgie jüdische und
christliche Elemente ineinander zu komponieren, sondern in Anlehnung an
das Modell Assisi einen jüdischen und einen christlichen Gebetsteil je
für sich zu konzipieren und die Feier möglicherweise mit einem
gemeinsamen Psalmgebet abzuschließen. Anstatt der Bezeichnung
"Gemeinschaftsfeier" einigte man sich für Berlin auf die vorsichtigere
Formulierung: "Beten in Anwesenheit des anderen - Juden und Christen
beten gemeinsam für den Frieden."
Kirchen und Christen zeigen an Judentum und Juden ein
wachsendes Interesse, am Dialog und an Formen der Gebetsgemeinschaft.
Dasselbe gilt nicht umgekehrt. Das liegt nicht nur an den schwierigen
Verhältnissen der jüdischen Minderheit und ihrer Gemeinden in
Deutschland, die seit zehn Jahren durch die Integration vieler jüdischer
Zuwanderer aus Russland zusätzlich belastet und oft überfordert sind,
sondern auch am asymmetrischen Verhältnis zwischen Christentum und
Judentum. Nach der Schoa haben die Kirchen in einem mühsamen Prozess
gelernt, dass sich die Kirche bei der Besinnung auf ihr Mysterium, bei
der Entfaltung ihrer Identität und ihrer Sendung und beim Vollzug ihrer
Liturgie stets auf ihre jüdische Wurzel besinnen muss. Sie sind zur
Einsicht gekommen, dass die bleibende Verbindung zum Judentum, nicht nur
zum Alten Testament, für sie unverzichtbar ist.
Eine antijüdische oder ajüdische Kirche wäre ein
Widerspruch in sich. Bei der Entdeckung und Bearbeitung der
antijüdischen Wurzeln und Tendenzen im Christentum haben Juden
christlichen Theologen und Kirchen entscheidend Hilfe geleistet. Eine
entsprechende Notwendigkeit besteht auf jüdischer Seite nicht. Für das
Judentum ist die Beziehung zum Christentum kein konstitutives Thema der
Selbstreflexion. Zwi Werblowski hat für diesen Sachverhalt den Titel
"Asymmetrie" des christlich-jüdischen Verhältnisses geprägt. Das
Christentum begegnet dem Judentum nicht beim Studium der eigenen
Tradition, sondern nur als Teil seiner in der Geschichte meist feindlich
erlebten Umwelt. Deshalb liegt das elementare Interesse der Juden am
Christentum nicht im religiösen Dialog zur Bereicherung ihres Glaubens,
sondern zuerst und vor allem in einer friedlichen Existenz nach der
Schoa. Sie brauchen die Gewissheit, dass ein lebensbedrohender Angriff
seitens der christlichen Zivilisation, dem sie wiederum machtlos und
hilflos ausgeliefert wären, in Zukunft nicht mehr möglich sein wird,
weil die Wurzel des Übels beseitigt ist.
zum Autor:
Hanspeter Heinz (62), Pastoraltheologe an der Universität Augsburg, ist
seit 1974 Leiter des Gesprächskreises "Juden und Christen" beim
Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Dieser Kreis hat sich kritisch
u.a. zum halbherzigen vatikanischen Schuldbekenntnis von 1998 und zur
Seligsprechung Pius IX. geäußert.
Die Erstveröffentlichung dieses Artikels befindet sich
in der Herderkorrspondenz, Ausgabe Februar 2003
siehe auch:
Mah nischtanah haLajlah haseh?
Nichtjuden am Sedertisch
Die Pessachzeit ist wieder einmal in allernächster Nähe.
Die Wohnung ist fast fertig geputzt, die Einladungen zum Seder sind
verschickt und man ist dabei, das Menü für den ersten Abend
zusammenzustellen. Man denkt an Familie X., die gute nichtjüdische
Bekannte sind...
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