
Abweichungen der christlichen Religionen
vom Judentum in den Erscheinungsformen.
Stellung des Einzelnen zur Glaubenslehre:
Jüdische Anerkennung individueller Glaubensauffassung
Von Leo Baeck
Die maßgebende Fassung und Festlegung von religiösen
Begriffen und Formeln ist dem Judentum im großen und ganzen ferngeblieben. So
sehr die Grundgedanken der Religion, die Einheit und Einzigkeit G'ttes, die
G'ttesebenbildlichkeit des Menschen, der sittliche Charakter der Frömmigkeit,
das messianische Ideal, das Geheimnis alles Letzten, immer feststehen, so ist
ihre dogmatische Bindung doch nicht erfolgt. Der gedankliche Ausdruck des
Glaubens hat immer die Freiheit und den Raum seiner Mannigfaltigkeit gehabt.
Nicht einmal, was bisweilen als ein Mangel hingestellt wird,
ein bestimmtes Glaubensbekenntnis ist ausgeprägt und für verbindlich erklärt
worden. Einer der einflußreichsten Lehrer,
Moses Maimonides, hat zwar im zwölften Jahrhundert ein solches verfaßt,
und es ist dann später, besonders in einer poetischen Form, die es erhalten
hatte (Jigdal), in das Gebetbuch aufgenommen worden und hat weithin weihevolle
Volkstümlichkeit erlangt. Aber ein verpflichtendes Bekenntnis, das die
Zugehörigkeit zum Judentum bedingte, ist es nicht geworden. Es war ein Glaubens
g e b e t, Gegenstand darum mehr der persönlichen Andacht als der geltenden
Glaubensverpflichtung.
Es ist auch selbstverständlich, dass das Judentum seit jeher
seine Sätze hatte, die in ihrer klassischen Prägung einen Glaubensinhalt
aufzeigten, Sätze, an denen der Jude seiner selbst bewußt wurde und den
Glaubensgenossen erkannte. Es braucht nur auf den Satz (5. Mos. 64) hingewiesen
zu werden: "Höre, Israel,
der Ewige ist unser G'tt, der Ewige ist einzig" und den ihm folgenden:
"Du sollst den Ewigen, deinen G'tt, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner
ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft" oder auf die Sätze der "dreizehn
Eigenschaften G'ttes" (2 Mos. 348): "der Ewige, der Ewige, G'tt, barmherzig und
gnädig, langmütig und reich an Liebe und Treue, der Liebe bewahrt bis ins
tausendste Glied, Schuld und Fehl und Sünde verzeiht und rein werden läßt," auch
auf das Sanctus (Jes. 68) "Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen,
voll ist die ganze Welt seiner Herrlichkeit."
Sie alle sind unzweifelhaft Sätze, in denen der Glaube der
Gemeinde, zu deren Besitztum sie geworden waren, sich immer wieder aussprechen
wollte. Aber auch sie sind, ganz abgesehen davon, dass in ihnen keine
begriffliche feste Formulierung gegeben ist, ganz eigentlich zu Gebeten
geworden; die Andacht vor allem versenkt sich in sie, und jedem Denken ist damit
die Freiheit gegeben, sich in sie zu vertiefen, jedem Gefühl das Recht, sich in
sie hineinzuempfinden. Das gleiche gilt von dem Hymnus, der zwei bestimmende
Glaubenssätze, den von dem einen G'tte, dem G'tte Israels, und den von dem
G'ttesreiche auf Erden verkündet (Alenu). Im dritten Jahrhundert für das Neujahr
verfaßt, ist er seit dem Mittelalter zum feierlichen Abschluß jedes
G'ttesdienstes geworden. Auch er ist Bekenntnisgebet und hat diesen
Gebetscharakter bewahrt; eine Bekenntnisformel stellt auch er nicht dar.
Verschiedene Gründe kommen zusammen, um eine dogmatische
Bindung des Glaubensausdruckes einerseits nicht möglich, andererseits weder
geboten noch erforderlich sein zu lassen.
Zunächst ist hierfür die Tatsache von Bedeutung, dass sich im
Judentum nie eine dauernde obrigkeitliche, sei es staatliche oder kirchliche,
Instanz gestalten konnte, die eine Lehrgewalt oder ein jus in sacra auszuüben
imstande gewesen wäre. Wenn auch die Zeit einer geschlossenen Staatlichkeit in
Palästina gewisse Ansätze zur Bildung einer Glaubensbehörde aufzeigt, so hat
doch sehr bald die Geschichte — und hierin spricht nicht nur ein Geschehen,
sondern ein Wesenszug — nach anderer Richtung geführt. Das Glaubensgut, das
depositum fidei, wurde dem e i n z e l n e n L e h r e r als
solchem zur Wahrung und Darbietung anvertraut; er wurde der Repräsentant der
lebendigen Tradition des Judentums. Er konnte darum eine freie Befugnis erlangen
und ein Recht der Lehre und Entscheidung ausüben, das in anderen Religionen nur
eingesetzten konstituierten Autoritäten zustand.
Eben darin hatte auch der Bann (Cherem) seine Begrenzung, den
das Judentum kannte; er war im jüdischen Mittelalter nicht selten ein
geeignetes, vielleicht notwendiges Mittel zur Sicherung der Rechtsprechung in
den Gemeinden, da diese jeder Vollstreckungsmöglichkeit ermangelte, aber häufig
wurde er auch ein bedenkliches, allerdings oft recht stumpfes Instrument für den
Kampf gegen missfällige Gedanken. Nicht eine Kirche sprach ihn hier aus, nicht
eine Vertretung der Glaubensgesamtheit, sondern nur ein Lehrer, ein Rabbiner,
sei es auch in Gemeinschaft mit zwei anderen oder mit Vertretern der Gemeinde,
oder gelegentlich einmal eine Synode. Und gegen diese einen konnten darum immer
die anderen treten, was dem Bann ein Wesentliches seiner Geltung und Wirkung
nahm. Er hatte im großen Ganzen nur örtliche Bedeutung, er hat die
Mannigfaltigkeit der Gedanken kaum je zu hindern vermocht. Im Grunde war er hier
in der Art, wie er ausgesprochen wurde, nichts anderes als die Kehrseite der
Lehrbefugnis des einzelnen Lehrers.
Der Freiheit der Gedankenbildung kam dann eines hier entgegen.
Im Judentum war die maßgebende Formung des Glaubensinhalts ein geringeres
Bedürfnis als in anderen Religionen. Das Judentum hat immer das Sakrament,
dieses mystische Gnadenmittel, abgelehnt, durch welches die Teilnahme an der
G'ttheit und dem religiösen Gut erreicht und gewährt werden soll. Zu diesem
Gnadenmittel, dieser heiligen Sache, tritt stets als ein Wesentliches der
heilige Satz, das Symbolon, die überlieferte Formel, die in endgültiger
bestimmter Ausprägung den Glaubensbesitz darreicht. Dogma und Sakrament gehören
zusammen; sie bedingen und tragen einander. Da das eine im Judentum fehlte, war
auch das andere in ihm nicht erforderlich. Die sakramentslose Religion konnte
dogmenlos sein; der Darlegung der Glaubensideen konnte eine größere individuelle
Selbständigkeit gewährt bleiben.
Sie konnte um so größer sein, da das Judentum sich nicht als
Kirche ausgestaltet hat. Das Gnadenmittel erfordert die Gnadenanstalt, welche,
durch ein Übernatürliches gestiftet, die in den Sakramenten gegebene
Wunderwirkung, diesen sinnlich-übersinnlichen Schatz, verwaltet und ausspendet.
Zu dem Sakrament und seinem Dogma gehört so die Kirche. Sie fehlt darum dem
Judentum; an ihrer Stelle steht hier, in ihrer Vielfältigkeit, die Gemeinde.
Diese ist ein selbständiges Gebilde für sich, selbständig nach mancher Hinsicht
auch in der Erfassung der Lehre. In ihrer Mannigfaltigkeit hat sie daher auch
eine Mannigfaltigkeit und Freiheit im Geistigen ermöglichen, nicht selten auch
eine Zufluchtsstätte für Gedanken gewähren können, welche verfolgt oder beengt
wurden. Ihr Eigenrecht nahm der Geschlossenheit des großen Ganzen oft viel,
bedeutete aber oft auch viel für den Platz des Besonderen. Wie die Freiheit des
Lehrers hatte die der Gemeinde ihre Nachteile und Vorzüge neben- und ineinander.
Ein Ferneres wirkte dann noch ebenso und vielleicht noch mehr
auf eine gewisse Freiheit der Gedanken hin. Das Wesentliche und Entscheidende
der Frömmigkeit ist im Judentum das Tun des Menschen, die Erfüllung des
G'ttesgebotes, der Mizwa. Die Tora, die Lehre, ist nicht eine Lehre vom
Glauben, sondern eine Lehre vom Tun. Auf dieses richtet sich die ganze
Forderung, ihm und nur ihm ist die ganze, ins Einzelne gehende Bestimmtheit
zugewiesen und zuerkannt. Dem Gedanklichen und Lehrhaften war damit ein weiterer
Raum gelassen.
Es war um so mehr der Fall, da ihm gegenüber die Forderung
galt: du sollst forschen. Das Neuerfassen des Alten und das Weiterdenken war
damit verlangt. Das Suchen und Zweifeln, das Erklären und Widerlegen konnte sich
auswirken. Der einzelne Forscher und Lehrer erhielt damit sein Recht.
So sehr die Grundgedanken und die Grundlinien im Judentum
feststehen, konnte daher keine Persönlichkeit und auch keine Richtung für die
allein maßgebende erklärt werden. Man hatte vielfach die Freiheit in der Wahl
der Autorität. Es gab keine 'causa finita' gegen den einen Lehrer konnte immer
die Berufung an den anderen statthaben, gegen den vergangenen an den lebenden
und gegen den lebenden an den vergangenen. Der Widerspruch zwischen den
Autoritäten verminderte nicht die Autorität.
Um nur ein Beispiel anzuführen: der "Mischne Tora" des
Maimonides und die "Bemerkungen" seines dezidierten Gegners Abraham ben David
wurden, zueinandergestellt, wie zu einem literarischen Werke vereint, obwohl es
in vielen Fragen kaum einen stärkeren Gegensatz gibt als den zwischen ihnen
beiden. Beide stehen sie als anerkannte Lehrer des Judentums da. In derselben
Weise sind mannigfach Männer trotz allen Zwiespaltes der Gedanken zur Einheit
des Buches und der Autorität verbunden worden. Die Gemeinde des Judentums
erkannte sich die vielen Lehrer zu. Deshalb haben Konflikte, die bis an die
Prinzipien des Glaubens herandrangen, und in denen Autoritäten gegeneinander
traten, in manchen Zeiten die Gemeinden zerreißen können, ohne doch am letzten
Ende die Einheit des Judentums zu bedrohen; die Autoritäten von hüben wie von
drüben hörten nicht auf, Autoritäten des Judentums zu sein. Deshalb ist es auch
trotz der Schwere und der Erbitterung so manchen Kampfes zu keiner Sektenbildung
gekommen. Die einzige Ausnahme, die des Karäertums, bestätigt nur die Regel;
denn für seine Entstehung sind mehr politische Gründe als religiöse entscheidend
gewesen.
Ein Zwiefaches, das eigentlich eines ist, wirkte dahin, dass
dieses autoritative Recht des einzelnen Lehrers nicht zu einer Auflösung der
Gesamtgemeinde führte. Das erste ist das auf dem lebendigen
Geschichtsbewusstsein beruhende Gemeinschaftsgefühl, dessen wesentliche Kraft
immer eine religiöse, geistige war. Man fühlte sich, trotz des Fehlen. aller
äußeren Bindungen, so sehr als eine Gemeinschaft des Lebens, man wusste so sehr
um die gemeinsame Vergangenheit und die gemeinsame Zukunftsidee, und der
gemeinsame Besitz von Bibel und Talmud bekundete dies so deutlich, dass die
Gesamtheit alle diese Verschiedenheit der Lehrer und der Richtungen in sich
beschließen durfte. Und das andere, das ja im Grunde dasselbe ist, war die in
allen lebendige Überzeugung von einer stetigen Tradition im Judentum. Alle die
Lehrer von hier und dort sah man in eine Kette der Überlieferung eingegliedert,
welche nie abriß.
So sehr ein jeder von ihnen das Recht seiner Zeit und seiner
Entscheidung besaß, so schien das Ganze der Lehre doch erst in der Succession
der Lehrer, in ihrer Reihe bis zu den "Letzten" hin, gegeben. Dieses doppelte
Band hat die verschiedenen Richtungen und Generationen immer zusammengefügt und
zusammengehalten. Ohne dogmatische Gebundenheit und ohne kirchliche
Geschlossenheit lebte so stets ein Gesamtjudentum, im Dasein und im Bewusstsein,
mit einem Maße geistiger Mannigfaltigkeit und einer individuellen Lehrfreiheit
des Einzelnen, wie sie die anderen religiösen Gemeinschaften in den jeweiligen
Zeiten kaum aufweisen.
Leo Baeck.
Erschienen im fünften Teil "Juden und Umwelt" der "Lehren
des Judentums nach den Quellen" (s. III.Bd der 1999 ersch.
Faksimile-Edition der Ausgabe des Verbandes der Deutschen Juden v.
1928/30)
V.Teil: Juden und Umwelt
I. - Abwehr fremder Anschauungen
...
3. Die Auseinandersetzung mit dem entstehenden
Christentum.
4. Die Pharisäer
...
...
III. - Abweichung der christlichen Religion vom Judentum in den
Erscheinungsformen
1. Stellung des Einzelnen zur Glaubenslehre
a) Jüd. Anerkennung individueller
Glaubensauffassung
b) Christliche Bindung durch Dogmen
FORUM / LESERBRIEFE:
 Die
Offensive der Missionare
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