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Eine Geschichte von Missverständnissen:
Der Talmud und die Pharisäer
"... aber das Alte Testament haben wir
mit den Juden gemeinsam": So könnte man den Konsens quer durch das
christliche Lager auf den Punkt bringen. Doch halt - das stimmt nur zum
Teil. Was Juden und Christen trennt, ist das Neue Testament, das
Verständnis der Person Jesu aber auch die Unterschiedlichkeit im Umgang
mit dem, was Christen "Altes Testament" und Juden " TaNaKh" nennen.
Tanakh (sprich
Tanach) ist ein Kunstwort, das aus den Anfangsbuchstaben für die drei
Worte Torah, Newiim und Khetuvim gebildet ist.
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Die
Torah besteht aus den 5 Mosebüchern, die in der hebräischen Bibel
jeweils nach einem der ersten Worte des jeweiligen Buches heißen:
beReschith
(im Anfang),
Schemoth
(die Namen),
vajikra
(Er rief),
baMidbar
(in der Wüste) sowie
Dewarim
(Reden).
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Zu den
Newiim, den prophetischen Büchern, gehören nicht nur - wie in der
christlichen Tradition - die drei großen Propheten Jesaja, Jeremia und
Hesekiel sowie die zwölf "kleinen" Propheten, sondern es gehen ihnen die
"ersten Propheten" voran, nämlich: Josua, Richter, 1 + 2. Samuel sowie
1. + 2. Könige.
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Die
Khetuwim, die sonstigen Schriften, umfassen die Psalmen, die Sprüche
Salomons, Hiob, das Hohelied, Rut, Klagelieder, Prediger Salomo, Ester,
Daniel, Esra, Nehemia sowie 1 + 2. Chronik.
Am Sinai hat Moscheh
(Moses) von G'tt die Torah erhalten, wobei im Hebräischen die
Mehrzahlform "Toróth" steht. In der Sifra Bechukkotaj
heißt es kommentierend dazu: "Warum wird Toróth im Plural gesagt und
nicht Torah im Singular? Um uns zu lehren, daß dem Volk Israel zweimal
Torah gegeben ist: eine geschriebene und eine mündliche."
Nach jüdischem Verständnis wurde die
mündliche Lehre von Moses über Generationen hinweg weitergegeben und
fand erst zu einem späteren Zeitpunkt ihre schriftliche Fassung. Als der
Tempel zum zweiten Mal zerstört wurde (70 n.d.Z.) und das Land von den
Römern besetzt war, stellte sich die Frage, wie das Judentum nach diesem
Ereignis und der Zerstreuung in die Völker überlebensfähig bleiben
könnte. Nach langen Diskussionen begann dann ein Prozeß der
Verschriftung der ursprünglich mündlichen Lehre. Diese mündliche Lehre
ist der Talmud. "Einzig die durch den Talmud erhellte Bibel schreibt den
Leser in eine jüdische Lektüre der Schriften ein", so drückt es der
französische Rabbiner und Philosophieprofessor Marc-Alain Ouaknin aus.
Der Talmud ist also die Brille, durch die
Juden die Torah lernen und interpretieren. Ein Beispiel: In der Torah
heißt es: "Sechs Tage darf Arbeit verrichtet werden, aber am siebenten
Tag ist ein Schabbat vollkommener Ruhe, heilige Berufung, keinerlei
Arbeit dürft ihr verrichten; ein Schabbat ist es dem Ewigen an allen
euren Wohnsitzen" (3 Mose 23,3). Wie nun ist diese Ordnung G'ttes zu
verstehen? Wann genau beginnt der Schabbat und wann endet er? Was ist
Arbeit und was nicht? Wo liegen die Grenzen? Welche Strecken dürfen
zurückgelegt werden? Was passiert, wenn die Kuh des Nachbarn gerade am
Schabbat in eine Grube fällt? Diese und andere Fragestellungen werden in
der schriftlichen Torah nicht beantwortet. Sie werden aber von den
Weisen diskutiert und in ihrer Unterschiedlichkeit festgehalten: Rabbi X
sagt das, Rabbi Y fügt jenes dazu und Rabbi Z meint wieder etwas
anderes. Immer haben auch Minderheitspositionen Platz.
Im Talmud schlagen sich Meinungen und Diskussionen von
nahezu 3000 Lehrern aus mehr als sieben Jahrhunderten und drei
Kontinenten nieder: eine Diskussion über Grenzen von Zeit und Raum
hinweg. Weil Juden in unterschiedlichen Zeiten und zu unterschiedlichen
Bedingungen in den verschiedensten Umweltkulturen leben, besteht immer
wieder die Notwendigkeit, zu fragen, wie Wort G'ttes in der jeweilige
Zeit hinein aktualisiert wird, denn es geht nicht um ein passives
Aufnehmen der Tradition, sondern um ein immer neues Ringen und Umsetzen
der Weisung G'ttes.
Der Talmud setzt sich aus 2 Teilen zusammen: Die
Mischnah (wörtlich Lehre) ist der älteste und stellt den Text im
eigentlichen Sinn dar. Sie umfasst alle Lebensbereiche. Dahinter steht
die Frage, wie in einer Welt, die von G'tt und auf ihn hin geschaffen
ist das Handeln der Menschen aussehen soll, so dass es das Wesen und die
Absichten G'ttes repräsentiert. Die Gemarah wiederum ist die
Diskussion und der Kommentar zur Mischna. Hieraus wird schon deutlich,
dass das Leben sich immer wieder wandelt und diesem Wandel auch in der
Diskussion und Lebenspraxis Rechnung getragen werden soll. An der
Mischna haben mehrere Generationen von Gelehrten gearbeitet. Ende des 2.
Jahrhunderts wurde sie von Rabbi Jehuda Hanasi redigiert und gegliedert:
Nämlich in 6 Ordnungen zu 63 Traktaten mit 524 Kapiteln.
Zu den Mischna-Texten gibt es zwei verschiedene
Gemara-Fassungen: die eine ist die Gemara von Jerusalem von
Meistern aus den Schulen auf israelischem Gebiet, die andere ist die
Gemara von Babylon, in der sich die Erkenntnisse von Rabbinen aus den
Schulen von Babylon niederschlagen. Man spricht deshalb vom
palästinensischen oder vom babylonischen Talmud. Wenn nichts anderes
vermerkt ist, bezieht sich Fachliteratur auf den wesentlich
umfangreicheren babylonischen Talmud.
Wer heute eine Talmudseite vor sich hat, findet in der
Mitte eine Kolumne angeordnet, in der sich Mischna- und Gemaratext
abwechseln jeweils durch ° voneinander abgesetzt. Umrahmt wird diese
Kolumne von zwei späteren Kommentaren:
Auf der Seite, die zur Buchmitte liegt, steht der Kommentar von Raschi
(1040 -1105), einer der größten jüdischen Gelehrten. Geboren im
französischen Troyes verbrachte er einen Großteil seines Lebens in
Mainz. Sein Kommentar ist der Kommentar zum Talmud schlechthin: Er folgt
Schritt für Schritt jedem Talmudsatz, erläutert schwierige Worte und
stellt Bezüge zu anderen Texten her.
Auf dem äußeren Rand der (Buch-)Seite befinden sich die
Kommentare der Tossafot (wörtlich: Zusätze). Die Tossafisten sind
Schüler von Raschi. Sie lebten im 12. und 13. Jahrhundert in
Deutschland, Frankreich und England. Ihr Stil unterscheidet sich völlig
von Raschi. Es liegt ihnen nicht an einem fortlaufenden Kommentar,
sondern sie greifen die schwierigen Stellen eines Textes heraus,
vergleichen mit anderen Stellen und benennen dann Widersprüche, die sie
dann zu lösen versuchen. Sie beziehen sich oft auf Raschi und zeigen
auf, wo der Kommentar von Raschi Schwierigkeiten zeigt. Bestimmte
Talmud-Traktate sind von Raschi nicht vollständig kommentiert. Diese
Lücken füllen die Tossafisten.
Welche Rolle, könnte nun der Talmud, die mündliche
Torah, im christl.-jüd. Gespräch einnehmen? Was haben Christen unserer
Tage davon, wenn sie sich mit dem Talmud beschäftigen?
Jesus hat als Jude in der jüdischen Tradition gelebt. Wer die Lebenswelt
Jesu und den geistigen Horizont dieser Epoche nicht nur oberflächlich
kennenlernen will, kommt um den Talmud nicht herum. Das Christentum ist
auf diesem geistigen Hintergrund entstanden. Immer wieder bezieht sich
Jesus auf Diskussionen seiner Zeit, die sich sowohl im Talmud als auch
im Neuen Testament niederschlagen. "Die Schriftdeutung Jesus
unterscheidet sich kaum von jener der übrigen Interpreten aus jener
Epoche. Gelegentlich äußert er einen neuen Gedanken, doch sind seine
Postulate nicht radikal anders" schreibt Rabbiner Roland Gradwohl. Wenn
es um den Umgang mit Armen geht, so sagt Jesus "Du aber, wenn du
Wohltätigkeit übst (Z'dakah), dann laß nicht einmal deine Linke wissen,
was deine Rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen sei" (vgl. Mt
6,1-3). Der Talmud sagt: "Wer Almosen im Verborgenen gibt, ist größer
als Moses, unser Lehrer" und es ist wichtig, daß "der Geber nicht weiß,
wem er gibt und der Empfänger nicht weiß, von wem er die Gabe bekommt".
Auf die Frage, was das Wesentliche der Torah sei,
antwortet Hillel, der eine Generation vor Jesus lebte: "Was dir nicht
lieb ist, füge dem Nächsten nicht an. Das ist die Torah, alles Übrige
ist nur Ausführung" (Traktat Schabbat). Jesus antwortet auf dieselbe
Frage: "Tue deinem Nächsten so, wie du behandelt werden willst" (goldene
Regel). Der Unterschied besteht darin, dass Jesus von einem Juden und
Hillel, der ein Pharisäer war, von einem Heiden gefragt wurde.
Wer den Talmud kennenlernt merkt, dass Jesus keiner der
Gruppierungen seiner Zeit inhaltlich so nahesteht wie gerade den
Pharisäern. Manche jüdischen Theologen ordnen ihn deshalb dieser
Richtung zu. Warum aber sind gerade die Pharisäer in der christlichen
Tradition zum negativen Stereotyp schlechthin verkommen? Ohne zu
differenzieren werden sie als gesetzlich und heuchlerisch beschrieben
und diese Sicht wurde von christlicher Seite auf die Juden pauschal
erweitert. Sie bereitete den Nährboden für christlichen Antijudaismus.
Um eine erweiterte Sicht zu bekommen, ist ein Blick in
den Talmud hilfreich. Schon der palästinensische Talmud benennt sieben
Sorten von Pharisäern. Die Kritik Jesu an (einzelnen) Pharisäern stimmt
mit der dortigen Kritik überein. Jesus hat Auswüchse pharisäischen
Lebensstils kritisiert, niemals aber die Pharisäer pauschal als Gruppe.
Nach der
Zerstörung Jerusalems durch römische Truppen (70 n.d.Z.) waren
es die Pharisäer, welche die jüdische Tradition bewahrten, weitergaben
und auf die Notwendigkeit hinwiesen, daß sie in jeder Epoche neu
interpretiert werden muss und so eine Erstarrung in geronnene und
leblose Traditionen verhindert wird.
Iris Noah
zum Weiterlesen:
-- Rothschild, Fritz:
Christentum aus jüdischer Sicht, Fünf jüdische Denker des 20.
Jahrhunderts über das Christentum und sein Verhältnis zum Judentum.
380 Seiten. Berlin/Düsseldorf
1998. 39,80 DM. ISBN 3-87645-085-3
Institut Kirche und
Judentum, Berlin
-- Steinsaltz, Adin:
Talmud für Jedermann
Eine Einführung in
Geschichte, Aufbau, Inhalt und Methode des Talmuds. Ein Schlüssel zum
Verständnis des Judentums
383 Seiten 45.-,
Morascha Verlag
-- Steinsaltz, Adin:
Persönlichkeiten aus dem Talmud
Kurze Aufsätze zu den Rabbanim von Mischna und Gemara, packend und
informativ,
180 Seiten 29.-,
Morascha Verlag
-- Die Mischna
Hebräisch-Deutsch in 6 Bänden, K'ldr.
Die bisher einzige komplette Mischna-Ausgabe mit hebräischem
punktiertem und vokalisiertem Text nebst nebenstehender deutscher
Übersetzung und ausführlichem deutschen Kommentar von David Hoffmann und
Mitarbeitern.
Umfang 2850 Seiten 330.-,
Morascha Verlag
-- Dr. M. Braunschweiger
Die Lehrer der Mischna
Biographien der grossen Talmudgelehrten (Tannaim)
380 Seiten 35.-,
Morascha Verlag
FORUM / LESERBRIEFE:
Die
Offensive der Missionare
In 12 Bänden:
Der Babylonische Talmud
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