Tschuvot Va’ad HaHalacha Schel Knesset HaRabbanim B’Jisrael
HaTnu’a HaMassortit
Gebietsrückgabe um des Friedens willen
(YD 157:1)
Rabbi David Golinkin
Frage:
Erlaubt das jüdische Gesetz dem Staat Israel Teile des besetzten
Gebiete oder das gesamte 1967 besetzte Gebiet zurückzugeben "um
des Friedens willen"?
Antwort:
Dieses extrem komplexe und emotionale Thema wurde
von halachischen Autoritäten in weiten Kreisen seit dem
Sechs-Tage-Krieg (1) diskutiert, da das Thema Eretz Jisrael in
jüdischer Tradition und Geschichte einen ganz besonderen Platz
einnimmt (2). Gottes erste Gespräche mit Abraham drehen sich um
Eretz Jisrael:
"Gehe aus von Deinem Land und Deinem Geburtsort und aus dem Haus
Deines Vaters in das Land, welches ich Dir zeigen werde
... Ich werde Deinem Samen dieses Land geben." ... (Gen.
12:1/ 12: 7)
Und:
"Hebe doch Deine Augen und schaue von dem Ort, wo Du Dich
befindest, nach Mitternacht und Mittag und nach Morgen und nach
Abend. Denn all das Land, das Du siehst, werde ich Dir und
Deinem Samen für immer geben." (Gen 13:14-15)
Dieses Versprechen wird bei vielen Gelegenheiten zu Isaac (Gen
26, 1-6), Jacob (Gen 35;11-12) and Moses (Ex 6:2-8) wiederholt.
Eretz Jisrael, dem versprochenen Land, wohnt Heiligkeit inne.
Nach der Torah wurden Israels Vorfahren aus dem Lande
vertrieben, weil sie diese Heiligkeit entweihten (Lev. 18:24–28
und Gen. 15:16). Nach rabbinischer Meinung ist Eretz Jisrael das
heiligste aller Länder (Mischnah Kelim 1:6). Prophezeiungen
finden nur in Israel statt oder in Bezug auf das Land Israel
(3).
Eretz Jisrael ist auch in dem Masse besonders, da gewisse
Mitzwot nur in Israel erfüllt werden können, wie beispielsweise
das Schabbatjahr (Kidduschin 36b und Sota 14a). Die Rabbiner
gingen so weit zu sagen, dass ein jeder, der außerhalb von Eretz
Jisrael lebt, angesehen wird, als ob er keinen Gott hätte
(Ketubot 110b) und wer immer in Eretz Jisrael beerdigt wird,
wird als jemand, der unter dem Altar beerdigt wurde (Ketubot
111a).
Nun, da wir die tiefen theologischen und spirituellen Bindungen
des Volkes zu Eretz Jisrael aufgebaut haben, können wir die
widersprüchlichen halachischen Ansprüche in Bezug auf eine
territoriale Übereinkunft untersuchen.
Jene, die sich gegen einen territorialen Kompromiss aussprechen,
führen mindestens drei grundlegende Argumente an. Manche
bestehen darauf, dass es halachisch verboten sei, auch nur einen
Teil von "Eretz Jisrael HaSchleimah" ("das vollständige Land
Israel") zurückzugeben. Rabbi Theodore Friedman jedoch hat
überzeugend gezeigt, dass es kein Konzept in der Tradition gibt,
weil die Grenzen Israel sich in Israels Geschichte sowohl in der
Theorie als auch in der Praxis unzählige Male verändert haben
(4). Ein Beispiel aus der biblischen Zeit mag genügen: Gott
versprach Abraham das Land "vom Strom Ägyptens" (Gen. 15:18)
während er den Israeliten das Land vom "Tal Ägyptens" (Num.
34:5) versprach. Der "Strom Ägyptens" ist der Nil, während das
"Tal" das Wadi el Arish ist, welches sich 180 Meilen östlich des
Nil befindet!
Eine ähnliche Flexibilität der Grenzen wird in der rabbinischen
Periode offenkundig, als die Rabbinen die Grenzen von Israel
definieren mussten, mit dem Ziel, die Einhaltung der Mitzwot zu
ermöglichen, wie beispielsweise die Mitzwa des Schabbatjahres
oder des Maaser, der Zehntsteuer.
Die Grenzen wechselten von Mitzwa zu Mitzwa und das
Hauptkriterium für das Einbeziehen (eines Ortes in das Land)
schien die jüdische Bevölkerung der (betroffenen) Stadt gewesen
zu sein. Darum wurde Cäsarea, eine Stadt, die sowohl von Juden
als auch von Nichtjuden bewohnt wurden, ursprünglich zu Israel
gezählt, mit dem Zweck das Maaser und das Schabbatjahr einhalten
zu können, später wurde die Stadt jedoch wieder ausgeschlossen
(5). Ebenso waren Bet She’an, Bet Guvrin und K’far Zemah wegen
des Maaser ursprünglich Teil Eretz Jisraels, aber Rabbi Jehuda
HaNavi schloss die Städte aus dem Verbund aus, als der jüdische
Teil der Bevölkerung zurückging (6). Die Grenzen Israels waren
also fließend und das Konzept "das ganze Land Israel" entbehrt
in unseren klassischen Quellen jeglicher Basis.
Andere wiederum wenden ein, dass die Übergabe von Territorium an
Nichtjuden seine Grundlage in Deut. 7:1-2 hat:
" Wenn der Ewige Dein Gott Dich in das Land bringen wird,
welches Du im Begriff bist,
einzunehmen und zu besitzen, und er vor Dir viele Völker
austreiben wird ... sieben Völker, die größer und mächtiger als
Du sind ... Du sollst sie bannen, Du sollst mit ihnen keinen
Bund schließen und Du sollst kein Mitleid mit ihnen haben (lo techonem).
"Du sollst kein Mitleid haben" ist die einfache Übersetzung von lo techonem. Die Rabbiner legten lo techonem allerdings folgendermaßen aus: "gib ihnen keine Stellung
bzw. keine Besitzrecht auf das Land" (Avoda Sara 20a). Tossafot
(ad. loc.) interpretieren, dass man Teile von Eretz Jisrael an
Nichtjuden weder verkaufen noch abgeben darf. Diese Auslegung
würde jeden Kompromiss bezüglich der Territorien unterbinden.
Dennoch deuten viele Ausleger, dass das Verbot nur bezüglich
"Götzendienern", welches jene sieben Nationen betrifft, die in
Deut. 7:1-2 genannt werden, denn diese "werden Deinen Sohn sich
von mir abwenden lassen und sie werden fremden Göttern dienen"
(Deut. 7:4) (7). Moslems sind keine Götzendiener und viele
Autoritäten entschieden deshalb, dass man erlauben kann, ihnen
Teile von Eretz Jisrael (8) zu verkaufen oder zu geben. Insofern
wären territoriale Konzessionen Arabern gegenüber erlaubt.
Gegner eines territorialen Kompromisses berufen sich auf die
Meinung von Nachmanides. Im Buch Numeri wird postuliert:
"Und ihr sollt darin (in Eretz Jisrael) wohnen, denn ich habe
Euch das gegeben, es zu besitzen." (Num. 33:53)
Nachmanides legt diesen Satz als "positives" Gebot aus: "...
dass wir das Land nicht anderen den Händen anderer Völker
überlassen sollen. ... und die Weisen nannten dies einen
befohlenen Krieg" (9). In anderen Worten, es sei uns befohlen
Eretz Jisrael zu erobern und es in jüdischen Händen zu behalten,
und es sei außer Acht zu lassen, ob damit Lebensgefahr oder
Verlust jüdischen Lebens verbunden ist. Dennoch lehnten einige
Nachmanides‘ Meinung ab, weil er der Einzigste ist, der es als
ein Gebot erachtet, das Land Israel zu erobern und zu behalten.
Wiederum andere erklärten, dass sogar nach der Meinung des
Nachmanides diese Mitzwa nur in den Tagen des Messiah Gültigkeit
besitzt (11).
Es gibt mindestens drei Argumente für einen Kompromiss bezüglich
der Gebiete.
Rabbi Ovadia Josef, ehemaliger sefardischer Obberrabbiner von
Israel, betonte, dass
pikuach nefesch, die Rettung von Menschenleben in
Lebensgefahr, oberste Priorität vor allen anderen Geboten der
Tora hat, mit Ausnahme von Götzendienst, dem Verbot von
unerlaubten sexuellen Beziehungen und Mord (Sanhedrin 74a).
So würde pikuach nefesch
den Vorrang haben, selbst wenn es eine Mitzwa wäre, die Gebiete
unter jüdischer Souveränität zu halten. Rabbi Josef erklärt:
"Sollten das Militär gemeinsam mit dem Kabinett entscheiden,
dass es sich hier um einen Fall von
pikuach nefesch handelt ...dass, wenn die Gebiete
zurückgegeben werden, die Bedrohung des Krieges vermindert wird
und dass sich eine Möglichkeit eröffnet für einen dauerhaften
Frieden, so erscheint es, dass es nach allen halachischen
Meinungen zu erlauben ist, Gebiete von Eretz Jisrael
zurückzugeben, um dieses Ziel zu erreichen, denn nichts steht
über pikuach nefesch
(12)."
Zweitens zieht es die Tora vor, dass um des Friedens willen
Gebiete abgegeben werden dürfen:
"Chiram, der König von Zor, unterstützte den Schelomo mit
Zedernholz und mit Tannenholz und mit Gold - allem, was ihm
gefiel - und dann gab der König Schelomo dem Chiram zwanzig
Städte im Land Galil" (I Könige 9,11).
Wenn es König Salomon erlaubt war, zwanzig Städte als ein
Zeichen der Freundschaft für Dienste, die ihm erwiesen worden
waren, wegzugeben, so muss es auch uns erlaubt sein, Teile von
Eretz Jisrael um des Friedens willen wegzugeben.
Dies führt uns zum letzten Punkt. Der Friede ist einer der
großen Ideale des Judentums: "Auf drei Dingen beruht die Welt:
auf der Wahrheit, auf dem Recht und auf dem Frieden" (Avot
1,18). "Wenn das Jüdische Volk Götzen anbetet, aber in Frieden
miteinander lebt, dann vergibt ihnen Gott" (Sifrei Naso 42).
"Groß ist der Friede, denn alle wichtigen Gebete und
Segenssprüche enden mit ihm" (ibid.).
Aber es genügt nicht, sich zurückzulehnen und darauf zu warten,
dass der Frieden von sich aus kommt. In den Psalmen lesen wir:
"Suche Frieden und jage ihm nach" (Ps. 34,15). "Hillel sagte:
gehöre zu den Schülern Aharons, der den Frieden liebte und dem
Frieden nachjagte" (Avot, 1,12) – weiter wird über Aharon
berichtet, dass er zwischen den Antagonisten hin und herjagte,
bis sie befriedet waren (14).
Es stehen sich hier also zwei miteinander in Konflikt stehende
Werte im Judentum gegenüber- unsere Liebe zu Eretz Jisrael vs.
unserem Wunsch, Leben zu retten und unserem Wunsch, dem Frieden
"nachzujagen". Die Wahl zwischen diesen beiden Positionen ist
keine leichte – bei diesem Thema werden ohne Zweifel starke
Gefühle erweckt. Dennoch, so wie die oben angeführten Quellen zu
uns sprechen, scheint es logisch, dass, wenn die Mehrheit der
politischen und militärischen Führer des Staates Israel
entscheiden, dass die Aufgabe gewisser Gebiete definitiv Leben
retten kann und zu Frieden führen wird, dann erlaubt uns dies zu
tun das Jüdische Gesetz – und vielleicht verlangt es sogar von
uns, genau so zu handeln.
1) S. J. David Bleich, Contemporary Halachic Problems, Vol. II,
New York 1983, S. 189-221, Journal of Halacha and Contemporary
Society XVI (Herbst 1988), S. 55-95 und XVIII (Herbst 1989), S.
77-110.
2) Zentralität von Eretz Jisrael in der jüd. Tradition, s.
Abraham Halkin (Hg.), Zion in Jewish Literature, New York, 1961;
Lawrence Hoffman (Hg.), The Land of Israel: Jewish Perspektives,
Notre Dame 1986; Benjamin Segal, Returning: The Land of Israel
as Focus in Jewish History, Jerusalem 1987.
3) Mechilta, Pisha, Kap. 1, Ed. Lauterbach, Bd. 1, S. 4-8 und im
Besonderen Jehuda Halevi, Der Kusari, Teil 2, Abschn. 13-14,
übersetzt von H. Hirschfeld, New York, 1964, S. 89-92
4) Rabbi Theodore Friedman, Responsa of the Va’ad Halacha of the
Rabbinical Assembly of Israel 2 (5747), S. 73-77 = David
Golinkin (Hg.), Be’er Tuviah, Jerusalem 1991 (hebräisch), S.
53-58. Eine visuelle Präsentation der sich verschiebenden
Grenzen Israels im Altertum, s. Prof. Jacob Milgrom in Moment,
Aug. 1996, S. 52-53, 77 und The Macmillan Bible Atlas, Revised 3rd
Ed., New York1993, Karten No. 68, 69, 90, 98, 104-105, 158, 165,
170.
5) Tosefta Oholot 18:16-17, Ed. Zuckermandl, S. 617 begleitet
von der sorgfältigen Erklärung von Lee Levine, Caesarea Under
Roman Rule, Leiden, 1975, S. 67-68.
6) Jeruschalmi Demai, Kap. 2, Fol. 22c und Chullin 6b; die
Erklärung von Gedaliah Alon, The Jews in Their Land in the
Talmudic Age, II, Jerusalem, 1984, S. 731.
7) Tur Hoschen Mischpat 249, Bach (ad. loc.); Responsa des
Raschba, I, No. 8, S. 731.
8) R. Raphael Meyuhass, Mizbah Adamah, Saloniki, 1777, Fol. 12b;
R. Awraham Jitzchak HaCohen Kook, Responsa Mischpat Kohen, No.
63; R. Zvi Pesach Frank, Kerem Zion, Vol. 3, S. 13; R. Jitzchak
Isaac Halevi Herzog, Schana B’schana 5746, S. 136-140; R. Schaul
Jisraeli, Amud Hajemini, No.12, Par. 3; und R. Ovadiah Josef
zitiert aus s. (12).
9) Nachmanides Anfügungen zum Sefer HaMitzwot des RaMBaM, No. 4,
s.a. Nachmanides Kommentar zum Vers.
10) Maimonides, Sefer HaChinuch und andere schliessen es nicht
in ihre Aufstellung der 613 Mitzwot ein. S. Nachmanides unten,
S. 79-83, dort stimme ich mit Nachmanides‘ Auffassung von Alijah
überein, die auf der Sicht basiert, dass Alijah bedeutet, das
Land zu erobern. Trotzdem ziehe ich es vor die Gebiete um des
Friedens willen zurückzugeben, aus dem Grunde wie im Text,
unterer Abschnitt beschrieben.
11) R. Isaac de Leon in Megillat Esther zu Sefer HaMitzwot ad.
loc. und andere.
12) Torah Schebe’al Pe 21 (5740), S. 14 und ibid., 31 (5750), S.
16. Natürlich gibt es die Meinung, dass wir mehr Menschenleben
retten, wenn wir die Gebiete nicht zurückgeben, aber heute sind
die meisten israelischen politischen und militärischen Führer
nicht dieser Meinung.
13) Die parallele Passage in II Chr. 8,2 spricht vom Gegenteil,
aber diese Version scheint später datiert zu sein – s.
Enzyclopedia Mikrait, Vol. 4, Col. 6. Für andere Erklärungen s.
Radak zu beiden Versen und Jacob Myers, The Anchor Bible: II
Chronicles, Garden City, New York, 1965, S. 67.
14) Avot D’Rabbi Natan, Version B, Kap. 24, Schechter Ed., S. 49
und Version A, Kap. 12, S. 48-49.
Rabbi David Golinkin ist Rektor, Präsident und Professor für
Halacha am Schechter Institute For Jewish Studies in Jerusalem.
Er ist der Gründer des Institutes für Applied Halacha und der
Direktor des Zentrums für Frauen in der Halacha am SIJS. Er hält
den Vorsitz des Va’ad Halacha, des Law Committee der Rabbinical
Assembly, welche Responsen und halachische Leitlinien für die
Masorti (Conservative) Bewegung in Israel herausgibt.
http://www.masortiworld.com/
Übersetzung: S. Ruerup
hagalil.com
24-10-02 |