Erschienen
bei
MORASCHA
(2. Aufl. 1998)
Veröffentlicht mit Unterstützung der
Irene Bollag-Herzheimer Stiftung
Adin Steinsaltz
TALMUD FÜR JEDERMANN
Übersetzung aus dem Hebräischen
Mit Vorwort und
Glossar
von
M. Seidler
1. TEIL: GESCHICHTE
- 1. Talmud, was ist das?
- 2. Die mündliche Lehre
- Die ersten Generationen
3. Die mündliche Lehre - Die Zeit
der "Paare"4. Die
Tannaim
5. Die Redaktion der Mischna
6. Die Amoräer Babylons
7. Die Amoräer von Erez Jisrael
8. Die Redaktion des Babylonischen Talmud
9. Die Kommentare zum Talmud
10. Der Druck des Talmud
11. Talmudverfolgung und Talmudzensur
2. TEIL: STRUKTUR UND INHALT
15.
Der Schabbat
16. Feiertage und Festzeiten
17. Heirat und Scheidung
18. Die Stellung der Frau
19. Das Zivilrecht
20. Das Strafrecht
21. Opfer
22. Die Speisevorschriften
23. Rituelle Reinheit und Unreinheit
24. Moral und Halacha
25.
"Derech Erez"
26. Die Welt der Mystik
3. TEIL: DIE METHODE
- 27. Der halachische Midrasch
- 28. Die Talmudische Denkart
- 29. Besonderheiten und Seltenheiten
- 30. Die Arten des Talmudstudiums
- 31. Talmud und Halacha
- 32. Die Aggada im Talmud
- 33. Wer ist ein "Talmid Chacham"?
- 34. Die Bedeutung des Talmud
-
35.
Der Talmud wurde nicht abgeschlossen
Glossar
Anhang
VORWORT DES
ÜBERSETZERS
Das größte Hindernis auf dem Wege zum
Verständnis des Judentums ist das Missverständnis. Kaum eine historische
Erscheinung ist so dem Missverständnis ausgesetzt wie das Judentum. Dies hat
mehrere Ursachen, deren jede einzelne an und für sich schon eine starke,
fast unüberwindliche Barriere zum Verständnis des Judentums darstellt.
Da ist zum ersten die innere
Abgeschlossenheit des Judentums selbst. Es ist historische Tatsache, dass
das Judentum und seine Vertreter kein Bedürfnis und schon gar keinen inneren
Drang verspürten, sich nach außen (der nichtjüdischen Welt gegenüber) oder
auch nach innen hin zu erklären. Nach innen hin, das heißt für die Juden,
war das Judentum eine Selbstverständlichkeit, die die Frage nach einem
allumfassenden
Warum Judentum eigentlich gar nicht so richtig aufkommen ließ. Wo sie
dennoch gestellt wurde, war sie mehr Ausdruck der Zeit, meistens einer
geistig-politischen Krisenzeit (Eroberung, Auseinandersetzung mit einer
anderen Religion, kultureller Vermischung), als einem inneren Drang der
jüdischen Denkart entspringend. Die Juden sind eben (abgesehen von einer
geringen Anzahl von Gerim, zum Judentum Übergetretenen, die es immer
gab) nicht "Juden geworden", sind nie zum Judentum bekehrt worden, sie waren
Juden, so wie Deutsche Deutsche, Franzosen Franzosen und Eskimos Eskimos
sind. Dass dazu (im Gegensatz zu Deutschen, Franzosen und Eskimos) auch eine
höchst-differenzierte spirituelle Ordnung gehörte, die sich bis in die
abgelegensten Winkel des Alltagslebens bemerkbar machte, war Teil ihres
Judeseins, ihrer natürlichen Volkszugehörigkeit.
Die Juden wurden also nie zum Judentum
missioniert, und ihre Religion gehörte daher in einer Art und Weise zu ihrem
Wesen, die ein grundsätzliches Hinterfragen im Sinne von "Warum gerade
Judentum" eben alles andere als selbstverständlich erscheinen ließ, denn man
mag durchaus sein eigenes So- oder Anderssein hinterfragen, jedoch nur
äußerst selten sein eigenes Dasein!
Und wie nach innen, so nach außen. So wie die
Juden nicht durch Missionierung zum Judentum gelangt sind, so haben sie auch
(mit einer einzigen untypischen Ausnahme zur Zeit der Makkabäer) nie selbst
missioniert. Der jedem christlichen oder islamischen Gläubigen mit dem
Verständnis der eigenen Religion als Weltreligion unauflöslich verbundene
Begriff der Mission ist dem Judentum fremd. Judentum ist Weltreligion nur in
dem Sinne, dass es Anspruch auf Allgemeingültigkeit der in ihm verkündeten
Wahrheiten erhebt. Die Moral des Judentums ist absolut, weil sie für alle
Menschen verbindlich ist, es ist jedoch weder erwünscht noch notwendig, dass
alle Menschen Juden werden.
In diesen beiden Charaktermerkmalen des
Judentums, in der Wesensverbundenheit und Wesensselbstverständlichkeit nach
innen und dem Fehlen jeder Mission nach außen, liegt mithin der Grund für
das relativ geringe Bedürfnis des Judentums, "sich zu erklären".
Ein insbesondere für die christliche Welt weit
bedeutenderes Hindernis zum Verständnis des Judentums ist jedoch
historisch-ideologischer Art. Das aus dem Judentum hervorgegangene
Christentum hat so viel vom Judentum übernommen und mit einer abweichenden
Bedeutung belegt, dass viel Jüdisches jedem in der christlichen Welt
aufgewachsenen noch so unvoreingenommenen Menschen von vornherein sonderbar
"bekannt" vorkommt. Pessach ist eben das jüdische Osterfest, der Schabbat
ist der jüdische Sonntag, ein Rabbiner ist eine Art jüdischer Pfarrer, und
die jüdische Kirche heißt Synagoge. Dieses Pseudo-Vorwissen erschwert das
Verständnis des Judentums ganz beträchtlich, und es muss immer erst mühevoll
entfernt werden, was oftmals schwieriger ist als die eigentliche
Informationsvermittlung selbst.
Als Beispiel mag hier das "Alte Testament"
dienen. Wem fällt schon auf, dass vom jüdischen Standpunkt aus der Begriff
"Altes Testament" bereits in einem sehr aufdringlichen Masse wertend ist.
Die christliche Bibel, die zu drei Vierteln aus traditionellen heiligen
jüdischen Schriften besteht und zu einem Viertel aus Berichten über einen
gewissen Jesus aus Nazaret, hat die heiligen jüdischen Schriften schlicht
als "Altes", die Berichte über Jesus als "Neues" Testament definiert. Für
die Juden kann es ein "Altes Testament" jedoch gar nicht geben, weil sie ein
"Neues Testament" nicht kennen. Das "Alte Testament" ist somit die Bibel der
Juden, die ist aber
— schon allein durch den christlichen
Sprachgebrauch — im kollektiven abendländischen Bewusstsein eben etwas
"veraltet".
Die christlichen Feste, Ostern und
Pfingsten, sind den jüdischen Festen entlehnt, jedoch mit einer anderen
Bedeutung belegt worden. Und die christliche Zeit- und Jahresrechnung, die
mit dem 1. Januar anfängt, hat inzwischen die ganze Welt erobert, während
keiner weiss, dass er mit dem Neujahrsfeuerwerk eigentlich die Beschneidung
eines jüdischen Knaben feiert, der da — wie in der Tora vorgeschrieben — am
achten Tag nach seiner Geburt (Weihnachten) beschnitten und den sich bei
dieser Gelegenheit eingefundenen ausschließlich jüdischen Festgästen als
Jesus Ben Josef vorgestellt wurde. Wir befinden uns also im Jahre
Zweitausend nach einer Beschneidung. Letztere wiederum wurde von den
Christen gänzlich verworfen und wird durch den fröhlichen "Rutsch ins neue
Jahr" mehr verdrängt als erinnert. An ihre Stelle trat der
"Initiationsritus" der Taufe. Diese basiert ihrerseits auf dem rituellen
jüdischen Tauchbad, das im Christentum eine neue Funktion annahm, eben die
des Initiationsritus, eine Funktion, die es im Judentum nicht hat. Somit
haben wir es bei der christlich-abendländischen Kultur mit einem bunten
Jahrmarkt von ehemals jüdischen Bräuchen, Begriffen und Handlungen zu tun,
die aber mit anderen Inhalten belegt wurden. Und diese, wie gesagt,
erschweren ein Vordringen zu den ursprünglichen jüdischen Inhalten ungemein.
Doch die Missverständnisse und
Neuinterpretationen haben sich im Laufe der fast zwei Jahrtausende seit
Bestehen des Christentums ja nicht bloß automatisch angesammelt, sie sind
oft durchaus gezielt in polemischer Absicht in der christlichen (und mit
anderen Schwerpunkten auch in der islamischen) Welt verbreitet worden. Denn
neben der Belegung jüdischer Begriffe mit christlichen Inhalten, die sich
dann — will man die jüdischen Begriffe wieder ihrem ursprünglichen jüdischen
Sinn entsprechend erklären — wie ein Schleier dazwischen legen, ist ja auch
absichtlich verzerrt und verfälscht worden.
Als Beleg soll hier nur ein Beispiel
dienen: Würde man heute einen x-beliebigen, selbst überdurchschnittlich
gebildeten, Bürger nach der Bedeutung der Bezeichnung Pharisäer
fragen, hieße die prompte und eindeutige Antwort: Heuchler. Dabei ist
Pharisäer
(auf Hebräisch Peruschim) eine Sammelbezeichnung für die zu allen
Zeiten verehrten jüdischen Weisen der talmudischen Zeit. Wie kann man aber
dieses Wort jemals in einem Kontext benutzen, ohne beim "unvoreingenommenen"
Leser sofort Negativassoziationen hervorzurufen?
Und als ob damit noch nicht genug
Gründe vorhanden wären, die ein wirkliches Verständnis des Judentums von
vornherein extrem erschweren, richtet sich vor dem überwiegenden Grossteil
der deutschsprachigen Leser — den Deutschen und Österreichern — eine weitere
Barriere auf: die jüngste deutsch-jüdische Vergangenheit. Die mit dem am
jüdischen Volk verübten, von Deutschen geplanten, dirigierten und
schließlich ausgeführten Völkermord verbundenen Emotionen, sowie die große
Ansammlung des jüdischen Volkes in einem eigenen Staat, dem Staat Israel,
der in der aktuellen Gegenwart immer wieder Gegenstand heftiger und
leidenschaftlicher Auseinandersetzungen ist, verknüpfen sich oft zu einem
Gefühls- und Gedankenkomplex, den zu entwirren eigentlich Sache des
Psychologen wäre, eines Kulturpsychologen, sollte es diesen Beruf einmal
geben. Erst dann könnte man mit einer gewissen Hoffnung auf Erfolg an den
Anfang einer unvoreingenommenen Informationsvermittlung in Sachen Judentum
herangehen.
Das Herz der jüdischen Eigenart und das Wesen
des jüdischen Volkes liegt in einem Werk verborgen, das als Talmud bekannt
ist. Der Talmud ist der Kern des Judentums. Verständnis des Talmud ist
Verständnis des Judentums, Diffamierung des Talmud ist Diffamierung des
Judentums, Abkehr vom Talmud ist Abkehr vom Judentum. Der Zauber des
Judentums und die Quelle der jüdischen Weisheit liegen im Talmud verborgen,
und der "ewige" Jude, der die Phantasie sowohl der Freunde als auch der
Feinde des Judentums immer wieder beflügelt, ist eben immer auch und in
erster Linie (in den Worten von Isaac Breuer, einem der letzten bedeutenden
Repräsentanten des untergegangenen deutschen Judentums) ein "unverwüstlicher
Talmudjude".
Beim Talmud betritt der abendländische Leser
Neuland. Es ist zwar richtig, dass auch der Talmud in einem gewissen Umfang
im kollektiven Bewusstsein des Abendlandes schon mit bestimmten Werten
(meist ebenfalls
— da dem Christentum entspringend —
negativer Art) besetzt ist, doch er bleibt Neuland in dem Sinne, als dass er
in seiner Art einzigartig ist. Er ist auch einzigartiger als die
Upanischaden der Hinduisten, die heiligen Schriften der Mahayana-Buddhisten
oder die Scharia des Islam, einzigartiger als alle anderen östlichen oder
westlichen religiösen Schriften, die man trotz aller Unterschiede alle doch
irgendwie miteinander vergleichen kann. Der Talmud kennt keine Entsprechung
in einer anderen, außerjüdischen Kultur. Die Einzigartigkeit des Talmud ist
die Einzigartigkeit des Judentums. Wer dem Verständnis des Talmud näher
kommt, der rückt auch dem Judentum näher. Und so kann man, auf dem "Umweg"
über den Talmud — einem "Umweg", der sich letzten Endes als der direkteste
Weg herausstellt — vielleicht doch ein Verständnis des Judentums erlangen,
ein Verständnis, dem sich in unserer Zeit so viele Barrieren
entgegenstellen.
Das Buch "Talmud für Jedermann" wurde
von Raw Adin Steinsaltz verfasst. Der in Jerusalem lebende Rabbiner gehört
zu den bekanntesten Gestalten einer neuen Generation israelischer Rabbiner.
Als Gelehrter hochangesehen, besteht sein Lebenswerk in einer Neuausgabe des
gesamten Talmud, die vor allem dem Iwrit (Neuhebräisch) sprechenden Israeli
den Zugang zu diesem Werk erleichtern soll. Das Werk ist bei weitem noch
nicht abgeschlossen, doch über die Hälfte aller Talmudbände ist schon in der
Steinsaltz-Ausgabe erschienen, mit einer hebräischen Übersetzung aramäisch
geschriebener Textpassagen, knappen Texterläuterungen, Worterklärungen sowie
den traditionellen Talmudkommentaren des Raschi und der Tossafot. Der
moderne Steinsaltz-Talmud hat — das kann man sicherlich ohne Übertreibung
sagen — Berühmtheit erlangt
und Eingang in sehr viele religiöse jüdische
Häuser in- und außerhalb Israels gefunden.
Ausser dem Talmudprojekt hat Raw Steinsaltz
zahlreiche Bücher über das Judentum verfasst, von einem Wörterbuch
talmudischer Ausdrücke über Persönlichkeitsanalysen berühmter biblischer und
talmudischer Gestalten bis hin zu Interpretationen des chassidischen
Klassikers "Sefer Hatanja" und der mystischen chassidischen Erzählungen des
Rabbi Nachman.
Das Buch "Talmud für Jedermann", das zum
ersten Mal in einer deutschen Übersetzung vorliegt, versucht eine breite
Öffentlichkeit mit dem Talmud vertraut zu machen, gleichzeitig jedoch der
Komplexität und Tiefe des Themas gerecht zu werden. Es richtet sich sowohl
an den mit jüdischen oder gar "talmudischen Wassern" gänzlich ungewaschenen,
den es ohne unnötigen Balast in die Thematik einzuführen versteht, als auch
an fortgeschrittene Talmudschüler, für die es ebenfalls zahlreiche neue
Fakten zu erschließen und bisher unbeachtete Gesichtspunkte aufzuwerfen
vermag. In dieser bei Sachbüchern nur selten erreichten Kombination von
Allgemeinverständlichkeit und Tiefe liegt die Stärke dieses heute wohl schon
als Grundwerk anzusehenden Buches. Der Blick fürs Ganze ist in ihm auf
außergewöhnliche Weise mit der Sicht für das Detail verwoben. "Talmud für
Jedermann" schöpft aus der Fähigkeit des Autors, traditionelle jüdische
Gelehrsamkeit mit einer nüchternen wissenschaftlichen Sicht "von außen" zu
verbinden. Der Leser wird selbst beurteilen können, inwiefern diese seltene
Kombination dem Verständnis des Judentums neue Wege bahnt.
Die Übersetzung wurde von Raw Steinsaltz
durchgesehen und gutgeheißen. Unklarheiten oder missverständliche
Formulierungen im hebräischen Original wurden, ebenfalls nach Rücksprache
mit dem Autor, verbessert. Der Übersetzer hat sich erlaubt, bestimmte
Ausdrücke, die beim hebräischsprachigen Leser zwar als bekannt, beim
deutschsprachigen jedoch als eher unbekannt vorausgesetzt werden können,
(meist in Klammern) zu erläutern. Im allgemeinen wurde vom Übersetzer
—bei peinlicher Beachtung aller inhaltlichen Nuancen — die stilistische
Flüssigkeit der Übersetzung einer allzu wörtlichen Wiedergabe vorgezogen.
Über den auch im hebräischen Original
befindlichen Anhang mit der Aufzählung aller Talmudtraktate hinaus wurde
noch ein Glossar mit den wichtigsten hebräischen Ausdrücken und Termini
Technici hinzugefügt. Im Text selbst werden die (meist hebräischen)
Fremdwörter bei der ersten Erwähnung kursiv gedruckt.
M. Seidler 1995
/ TShN"H
VERLAG MORASCHA
BASEL/ZÜRICH
1998
Copyright der 2. Deutschen Auflage 1998,
Verlag Morascha
Copyright der hebräischen Originalausgabe Idanim
in Zusammenarbeit mit Jediot Acharonot
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des Verlages gestattet.
Umschlaggestaltung: M. Moskovits
Printed in Israel


In 12 Bänden:
Der Babylonische Talmud
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Jüdische Religion aktuell
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