Jüdisches Glauben und Denken:
Eine Tradition des Lebendigen und Schöpferischen
Von Josef Kastein, eine Geschichte der Juden
pp. 372, VIERTES KAPITEL, MARTYRIUM UND MYSTIK
(Teil 2)
Das vorherige Kapitel
beschreibt in groben Zügen, wie der Jude des 13. Jahrhunderts zu
leben gezwungen ist. Der geschilderten Massenhaftigkeit und
Brutalität der Vorgänge kann sich auch die Welt, in der er
freiwillig lebt, die religiöse, unmöglich ganz entziehen.
Das religiöse Dasein hat endlich den Punkt erreicht, in dem es von
der Ungunst der materiellen Existenz so angenagt und unterhöhlt
wird, dass die Bruchstelle sichtbar wird: das Aufhören der
lebendigen, im Leben schöpferischen Tradition. Ihr Dasein enthüllt
sich jetzt als das, was es von Anfang an war: als Fiktion. Es war
eine grandiose Fiktion, die kein Volk in der Welt auch nur annähernd
in dieser Weise aufgestellt und zur realen Lebensgrundlage für
Menschen gemacht hat.
Da diese Menschen aber mit ihren eigenen inneren Gesetzen und
Bedingungen fortgesetzt im Angriffsbereich fremder Kräfte leben
mussten, da ihre äußeren Bedingungen in absoluter Abhängigkeit von
fremden, durchweg feindlichen Gewalten standen, lebten sie sich
selbst, konnten sie sich selbst leben nur in jeweiliger Anpassung
oder Abwehr, wobei die Grundlage religiösen Lebens: organische
Gemeinschaft, mehr ein Zwangszustand der Abschließung als ein
gewachsener Zustand des Zusammenschlusses war.
Der Versuch, auf dieser anormalen Grundlage als Juden zu leben, das
heißt: in der Gegenwart zu wirken, aus der Vergangenheit die
Traditionskraft zu empfangen und in eine gestaltende Zukunft
hineinzuhoffen — dieser Versuch riss den unüberbrückbaren Gegensatz
zwischen Gläubigkeit und gedanklicher Konzeption, zwischen Gehirn
und Herz so mächtig auf, dass er für Jahrhunderte das eigentliche
Problem ihrer volklichen Existenz wurde.
Spanisches
Licht in der aschkenasischen Nacht
Gerade an der geistigen Gestaltung, die das
spanische Judentum als seine letzte Blüte hoffnungsfreudig aus sich
entlassen hatte: an den Werken eines
Maimonides (RaMBaM,
1135-1204), wird diese Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und
Lebensgestaltung offenbar.
Maimonides hatte ein Ziel: die Synthese zwischen Philosophie und
Glaube. Die geistige Strömung, die sich zu seinen Lebzeiten und nach
seinem Tode an ihn heftete, begriff vor allem das Beglückende freier
geistiger Entfaltung mit einer starken, national und religiös
fundierten Weltanschauung im Hintergrunde. Man brauchte nichts von
dem zu leugnen, was frühere Geschlechter als religiöse Offenbarungen
empfunden hatten, nicht einmal das, was der Vernunft widerspricht
und nur im Glauben an das Geschehen von Wundern seine Begründung
findet. Die Vernunft, die philosophische Haltung blieb unverletzt,
wenn man die Legenden und Wundertaten und das Anthropomorphe im Tun
Gottes als Ausdrucksform, als Bild, als Symbol gelten ließ. Und
eines Tages, ehe sie sich dessen versahen, war alles, was nur von
der Vernunft her nicht zu begreifen war, aufgelöst in Bilder und
Symbole. Es hatte seine zeugende religiöse Wirksamkeit eingebüßt.
Sie spalteten das einheitliche Gefüge der religiösen Tradition. »In
der Heiligen Schrift«, erklärt ein Maimonist, »ist das eine für die
Lippen, das andere fürs Herz bestimmt. Der innere Sinn ist dem
Weisen, der äußere dem Einfältigen zugedacht.« Damit war die Idee
der Maimonidischen Synthese in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn der
»Weise« den Sinn des Religiösen aus «einen persönlichen
philosophischen Möglichkeiten begreift und ihn nicht erspürt aus dem
Gefühl, im Rahmen, in der Kette, im Verbände zu stehen, dann wird
das, was er als Auswirkung in das Leben hineinträgt, privat,
unverbunden und für den Begriff einer Gemeinschaft auflösend.
Es
entsteht die zwiespältigste aller geistigen Haltungen: die liberale.
Liberalismus im religiösen Bezirk ist ein Freiheitsbegriff, der aus
der Unfähigkeit kommt, sich für das Ja oder für das Nein zu
entscheiden. Die Konsequenz eines solchen Liberalismus war die
wachsende Vernachlässigung der Ritualgesetze, ein allmähliches
Abstreifen aller Bindungen und die vielfache Schließung von
Mischehen. Aber es hätte nicht einmal solcher Vorgänge bedurft, um
eine ständig wachsende Opposition in die Erscheinung treten zu
lassen.
Den Anruf, das von Maimonides aufgeworfene Problem zu lösen, vernahm
die ganze Judenheit, soweit ihr damals die Zeit und der Ort ihres
Aufenthaltes überhaupt eine geistige Existenz ermöglichten. Aber
schon die Voraussetzung, von der Maimonides ausgegangen war: die
Notwendigkeit, Religion und Philosophie zu versöhnen, wurde von
einem großen Teil der Juden überhaupt nicht anerkannt. Ihnen
genügte, dass sie glaubten. Mehr noch: ihnen war nur wichtig, dass
einer glaube. Es waren insbesondere die Juden in Deutschland und
Frankreich, die diesen Standpunkt vertraten. Ein Doppeltes ließ sie
diesen Standpunkt einnehmen: das Schicksal, das ihnen bereitet
wurde, und die Sorge um das Schicksal des ganzen Volkes.
Was diente ihnen, deren Schicksal in diesem Abschnitt dargestellt
wurde, die Vernunft, die Philosophie, die rationalistische
Begründung ihres Glaubens? Hätte aller Verstand das lähmende Gefühl
der Ohnmacht verjagen können, mit der sie allem Unguten aus Zeit und
Umgebung ausgeliefert waren? Hätte man sie — wie in Spanien — auch
nur an einer Spur von Freiheit und Lebensfreude teilnehmen lassen?
Zwischen ihrem Schicksal und dem Sinn ihres Schicksals konnte
niemals die Vernunft eine Relation herstellen. Das wäre Selbstmord
gewesen. Da aber ihr Lebenswille wie durch ein Wunder immer noch
intakt war, konnten sie nur fortleben, wenn sie ohne Frage und ohne
Gedanken, ohne Zweifel und ohne die Krücke der Vernunft sich der
Welt ihres Glaubens auslieferten. Wenn ihr Schicksal überhaupt einen
Sinn tragen sollte, musste er ganz im Grunde, ganz in Gott und
seinen Gesetzen beschlossen liegen. Brach man die kleinste Lücke in
dieses Gefüge, ließ man die mindeste Lockerung auch des geringsten
religiösen Gebotes zu, so hob man die Welt aus den Angeln, in der
sie lebten.
Von
hier aus musste das Ergebnis entstehen, dass die orthodoxe, die
konservative Tendenz unter ihnen ständig wuchs. Aber von hier aus
begriffen sie auch die Vorgänge in der Welt des Maimonides.
Sie sahen, dass sich in der Hand des Rationalisten jedes Stück der
Tradition in ein Symbol verwandelte. Das war die Anarchie; das war
die Auflösung des Gesetzes. Sie sahen, dass in den Synagogen
Spaniens und der Provence eine begeisterte Jugend ihre Ideen von
geistiger Freiheit verkündete. Sie sahen, dass dort der Talmud nicht
mehr wichtiger war als Plato und Aristoteles. Sie verstanden das
alles als die äußerste Gefahr, als den Beginn der Auflösung des
jüdischen Volkes. Darum sagten sie der geistigen Richtung, die sie
dafür verantwortlich hielten, der Philosophie, den Kampf an.
Der "More newuchim" wird verbrannt:
Der
Kampf gegen den RaMBaM
Rationalisten, Antirationalisten und die Lehre von
der "doppelten Wahrheit"...
Bücher brennen und Hostien bluten:
Der Prozess
gegen den Talmud
Um die Juden im Bereich des Denkens zu schlagen und
die als Konkurrenz empfundene Lehre des Judentums zu diskreditieren,
versuchte man die geistigen Grundlagen der Lehre zu erniedrigen oder
zu zerstören. Im 13.Jh. begann die Kirche einen Prozess gegen den
Talmud...
hagalil.com
07-12-05 |