Grundlagen der jüdischen Religion:
Die Geschichte des Talmud
Nach Jakob
Fromer
Grundlagen
Die Geschichte der Juden setzt sich aus einer biblischen
und einer talmudischen Epoche zusammen.
Die biblische Epoche schliesst mit dem babylonischen Exil ab. Die
talmudische Epoche, deren Beginn in der Zeit zwischen dem babylonischen Exil
und dem Makkabäeraufstand liegt, zerfällt in vier Perioden:
- Die erste Periode endigt mit der Zerstörung des zweiten
Tempels (70 n. Chr.).
- Die zweite Periode endigt mit dem Abschluss der Mischna
(Ende des zweiten nachchristl. Jahrhunderts).
- Die dritte Periode endigt mit dem Abschluss des
babylonischen Talmud (sechstes nachchristl. Jahrhundert).
- Die vierte Periode läuft bis in die Gegenwart.
Die in diesen Perioden auftretenden Lehrer führen
verschiedene Bezeichnungen.
- In der ersten Periode werden sie von den Juden
"haSkenim harischonim", die ersten der Älteren, "Chachamim", die Weisen
und "Rabbanan", unsere Herren, in der Einzahl "Rabbi", mein Herr,
genannt. Josephus, die Sadduzäer, die Schriftsteller des alten
Testaments und die Kirchenväter hingegen bezeichnen sie als "Pharisäer"
oder Pruschim" oder auch als "Schriftgelehrte und Pharisäer".
- Die Lehrer der zweiten Periode befassen sich
vornehmlich mit der Aufgabe, die "Halaka", den Gesetzesstoff, in einen
Kodex zusammenzufassen, der "Mischna", die Lehre, genannt wird. Wegen
dieser Tätigkeit führen sie neben den Bezeichnungen "Skenim",
"Chachamim" und "Rabbanan" die Hauptbezeichnung "Tannaim"
(Tannaiten), Mischna-Lehrer. Sie, wie die Lehrer der ersten Periode
lebten fast ausschließlich in Palästina.
- Die Lehrer der dritten Periode zerfallen in zwei
Gruppen. Die eine setzte ihre Tätigkeit in Palästina fort. Die andere
war nach dem Abschluss der Mischnah nach Babylonien ausgewandert. Beide
arbeiteten unabhängig voneinander an der Schaffung einer "Gemarah",
Vollendung oder Erklärung zur Mischnah. Dieser Tätigkeit wegen werden
sie "Amoraim" (Amoräer) Mischnaerklärer, genannt.
Im 4. nachchristlichen Jahrhundert wurde in Palästina und
ein Jahrhundert später in Babylonien die Gemara zusammen mit der Mischna als
Text unter dem Namen "Talmud" herausgegeben.
So entstanden zwei voneinander unabhängige Talmude: ein palästinensischer
und ein babylonischer. Das palästinensische Werk (Talmud Iruschalmi)
ist weniger zur Geltung gelangt. Der babylonische Talmud (Talmud Bawli)
hingegen wurde zum wichtigsten Gedankenwerk und aufs eifrigste studiert.
- Mit der Erklärung und der übersichtlichen Darstellung
seines Inhalts befassen sich die Lehrer der vierten Periode. Ihre
Geschichte zerfällt in drei Abschnitte, die von der Auswanderung der
Juden aus Babylonien (9. nachchristl. Jahrhundert) und der Vertreibung
der Juden aus der Pyrenäenhalbinsel begrenzt sind.
In dem ersten Abschnitt heissen sie "Geonim", Exzellenzen, in dem
zweiten Abschnitt "Rischonim", die Ersten, in dem dritten
Abschnitt "Acharonim", die Letzten. In der modernen jüdischen
Geschichtsforschung werden die Lehrer dieser Periode mit dem gemeinsamen
Namen "Rabbinen" oder "Rabanim" bezeichnet.
Demnach wollen wir die vier Perioden der talmudischen
Epoche pharisäisch, tannaitisch, amoräisch und
rabbinisch nennen.
Talmud Torah
"Talmud", das Studium, ist eine Abkürzung. Der volle
Ausdruck lautet "Talmud Torah", das Studium der Tora, der Lehre. So werden
im Morgengebet die vornehmsten Gebote aufgezählt und als das wichtigste
darunter das "Talmud
Torah" genannt.
Zwiefach ist die Bedeutung dieses Ausdrucks. Er bezeichnet entweder das
bloße Studium der Tora als Tätigkeit oder das Ergebnis dieser Tätigkeit. In
dem letzteren Sinne umfasst er die gesamte Literatur, die von den Lehrern
der ersteren drei Perioden der talmudischen Epoche, den früheren Ältesten,
den Tannaiten und Amoräern herrührt. Aus der ersten Periode haben sich nur
mündliche Lehren erhalten. Die ältesten schriftlichen Werke stammen aus der
zweiten Periode. Alle beschäftigen sich vornehmlich mit der Halaka, der
Gesetzesbestimmung. Das wichtigste und umfangreichste ist die Mischna.
Daneben gibt es drei kleinere Werke, die "Mekilta", "Sifra" und "Sifre"
betitelt sind und Erklärungen zur Tora bilden. Aus der dritten Periode
stammen die palästinensische und babylonische Gemara und einige "Midraschim"
genannte Kommentare zur Bibel, die sich mit der "Aggada", den Erzählungen
befassen.
Alle diese Werke versteht man unter Talmud als Ergebnis im weiteren Sinne.
Im engeren Sinne jedoch versteht man darunter das palästinensische und
babylonische Werk.
In der vorliegenden Schrift soll der Ausdruck Talmud stets im weiteren Sinne
gebraucht werden.
Die Geschichte
Schon bei einer äußeren Betrachtung der jüdischen
Geschichte fällt der ungeheure Gegensatz zwischen dem biblischen und dem
talmudischen Judentum auf.
Der biblische Jude kennzeichnet sich durch eine naive Religiosität und eine
schlichte Denkart. Sein Ideal war, unter seinem Feigenbaum und Weinstock ein
behagliches Dasein zu genießen. Dazu bediente er sich der Religion.
Er blieb seinem Gott so lange treu, als dieser das Land beschützte, Saat und
Vieh gedeihen ließ und sonstige häusliche Angelegenheiten zum Guten führte.
Sonst wandte er sich dem leistungsfähigeren Gott des Nachbars und Siegers
zu. Von einem Streben, über diese einfältige Denkart hinauszukommen, seinen
Geist irgendwie zu betätigen, ist keine Spur vorhanden. So sehen wir ihn in
die Geschichte eintreten, und so kehrt er aus dem babylonischen Exil zurück.
Als Esra auf dem Markte zu Jerusalem die Tora vorlas, brach das Volk in
Tränen aus, weil es den Inhalt dieses Buches nicht kannte und deshalb seine
Gebote nicht auszuüben vermocht hatte (Nehemia 8, 9).
Nach einem halben Jahrtausend war dieses Volk kaum wieder zu erkennen.
Allein in Jerusalem gab es, einem talmudischen Berichte zufolge, nicht
weniger als 480 Elementarschulen, von denen eine jede zwei Klassen aufwies,
eine niedere für den biblischen und eine höhere für den talmudischen
Unterricht (Pal. Megilla III, 1 und Ketubot 105 a). Mit welchem Eifer man
sich dem Talmudstudium hingab, bezeugt die Erzählung vom jungen Hillel, der
tagsüber arbeitete, um sich das Eintrittsgeld für die abendlichen Vorträge
im Lehrhause zu erwerben. Als er eines Abends mit leeren Händen hinkam,
kletterte er aufs Dach, um an der Fensterluke zu lauschen. Am nächsten
Morgen fand man ihn dort unter dem Schnee, der während der Nacht gefallen
war, schlafend liegen (s. Hillel
*).
* Zu den mit s. (siehe) bezeichneten
Hinweisen wollen wir in nächster Zeit erläuternde Artikel in einem Glossar
anbieten.
Dass dieser am Beginn des ersten nachchristlichen Jahrhunderts sich
abspielende Vorfall den damaligen Zeitverhältnissen durchaus entspricht,
kann man aus einer Reihe von zeitgenössischen Zeugnissen ersehen.
Der zeitgenössische alexandrinische Jude Philo berichtet über seine
Glaubensgenossen: "Sie werden sozusagen schon in den Windeln (protes
helikias) von den Eltern und Erziehern noch vor dem Unterricht in den
heiligen Gesetzen und den ungeschriebenen Sitten (womit offenbar der Talmud,
die mündliche Lehre, gemeint ist) unterrichtet." (Philo, Lagatio ad Gajum,
ed. Mangey, II, 577.)
Ähnliches berichtet sein Zeitgenosse Josephus. "Mehr als um alles", schreibt
er, "bemühen wir uns um die Kindererziehung und halten die Beobachtung der
Gesetze und die ihnen entsprechende Frömmigkeit für die wichtigste
Angelegenheit des ganzen Lebens" (Josephus, Gegen Apion 1, 12).
An einer anderen Stelle äußert er sich: "Wen von uns man nach den Gesetzen
frage, der würde leichter alle hersagen, als seinen eigenen Namen; da wir
sie vom ersten Bewusstsein an erlernen, haben wir sie in unsere Seele
eingegraben." (Josephus, Gegen Apion 2, 18.)
Zu diesen Schilderungen passt durchaus das Bild des zwölfjährigen Jesus, der
sich im Tempel zu Jerusalem mit den Schriftgelehrten unterhält (Lukas 2,
46). In welche Synagoge Paulus auch immer kommt, überall findet er die
Gemeinde bereit, mit ihm über die Schriftauslegung zu diskutieren.
Zu dieser erstaunlichen Überhandnahme der Gelehrsamkeit tritt eine peinliche
Frömmigkeit und eine Weltabgewandtheit, wie sie in der biblischen Zeit ganz
undenkbar war. Der fromme Jude traut sich gar nicht mehr an die Natur heran.
Dabei haben wir es hier nicht etwa mit vorübergehenden Erscheinungen zu tun.
Sie beherrschen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts das ganze Judentum und
haben sich noch bis auf die Gegenwart bei den traditionstreuen Juden des
Ostens unverändert erhalten. Wie im Zeitalter Jesu, schicken sie noch immer
ihre Kinder im frühesten Alter in das Cheder,1
um sie in den Talmud einzuweihen.
Noch immer verbringt jung und alt jede freie Stunde im Beth haMidrasch, um
sich in den weltfremden Problemen dieses Werkes zu vertiefen. Noch immer
richten sie sich nach dem Satze: "Wer auf dem Wege geht und sein Nachdenken
über das Gelernte durch eine Betrachtung der Natur unterbricht, indem er
sagt: "Wie schön ist dieser Baum, wie schön ist dieser Acker, der hat sein
Leben verwirkt" (Abot 3, 7). Noch immer leben sie in einem Netze von
religiösen Vorschriften, das ihr gesamtes Empfinden, Denken und Handeln
umspannt und jede freie Bewegung ausschließt.
Anmerkung: Diese Zeilen wurden im Jahre 1920
niedergeschrieben, d.h. vor der Zerstörung des europäischen Judentums in der
Schoah.
1 Cheder, eigentlich Zimmer, Privatschule, in der, unter Vernachlässigung
alles weltlichen Wissens ausschließlich die Bibel und der Talmud gelehrt
wird. In diese Schulen werden die Knaben im Alter von 5-6 Jahren geschickt.
(Die Mädchen genießen keinen Unterricht, so dass sie selbst die Gebete nicht
lesen können, wenn sie sich nicht aus eigenem Antrieb das Lesen der
hebräischen Sprache aneignen.) Sie bleiben dort bis zu ihrem zehnten oder
dreizehnten Lebensjahre, widmen sich dann einem Berufe oder besuchen die
höheren Talmudschulen, das Bet haMidrasch oder die Jeschiwah.
Wie ist dieser beispiellose Charakterumschwung vom biblischen zum
talmudischen Judentum zu erklären? Aus einem Ackerbau treibenden Volke von
primitiver Denk- und Lebensweise ist ein von weltentlegenen Problemen
zerwühltes und grübelndes Volk geworden! Welcher Geist ist in diese Menschen
gefahren?
Betrachtet man die Geschichte der ersten Periode des talmudischen Judentums,
dann sehen wir uns vor einer neuen Fülle von Problemen.
Den talmudischen Berichten zufolge reicht eine ununterbrochene
Traditionskette von den Pharisäern bis zu Moses hinauf. Moses, heißt es, hat
die mündliche Tora, die er auf dem Berge Sinai zugleich mit der
schriftlichen erhalten hatte, dem Josua überliefert. Von diesem kam sie
nacheinander auf die Ältesten der Richterzeit, die Propheten, die Männer der
großen Synode (Sanhedrin, Synhedrion), deren letzter, Simon der Gerechte
(Schim'on haZadik), der Zeitgenosse Alexander des Grossen war (Abot 1,1).
Simon überlieferte sie dem Antigonos aus Soko, der sie den "Sugot", den
Paaren, weitergab. Jedes Paar bestand aus einem "Nasi", Fürsten, und einem
"Aw Beth haDin", Vater des Gerichtshofs. Solcher Paare werden fünf genannt.
Das erste, bestehend aus Jose ben Joeser und Jose ben Jochanan, lebte zur
Zeit des Makkabäeraufstandes, also um die Mitte des zweiten vorchristlichen
Jahrhunderts.
Das letzte Sug (Paar), Hillel und Schammai, lebte am Beginn des ersten
nachchristlichen Jahrhunderts (s. Sugoth). Bis zum Abschluss der
pharisäischen Periode folgten auf Hillel, unter dem das Nasiat erblich
wurde, nacheinander sein Sohn Schimon I., sein Enkel Gamliel I. und sein
Urenkel Schimon II. (s. Hillel).
Bei dieser Aufzählung fällt es auf, dass der Talmud über die Lehrer aus der
Zeit zwischen Moses und den Männern der großen Synode nichts zu berichten
weiß. Wir erfahren weder, wie sie geheißen, noch was sie überliefert haben
und wie die von ihnen geleiteten Lehrhäuser beschaffen waren. Von Esra an,
der um die Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts lebte, wird
ebenfalls kein Talmudlehrer namhaft gemacht. Der Talmud zählt zwar einige
"Takanoth", Verordnungen, auf, die von den Männern der großen Synode
herrühren, weiß aber ebenso wenig wie über die Talmudschulen der früheren
Zeit anzugeben, wie diese Synode beschaffen war. Selbst über die Bedeutung
ihres Namens scheint er sich nicht recht klar zu sein. "Warum," fragt er,
"heißen sie Männer der großen Synode?" Weil sie "die Größe" wieder
hergestellt haben.
Moses sagte: "Der große, starke und furchtbare Gott." Jeremias wandte
dagegen ein: "Die Heiden springen umher in seinem Palaste, wo ist seine
Furchtbarkeit?" Er ließ deshalb "furchtbar" weg. Daniel wiederum sagte: "Die
Heiden herrschen über seine Kinder, wo ist seine Stärke?" Er ließ "starke"
weg. Nun kamen die Männer der großen Synode und sagten: "Das ist gerade
seine Größe, dass er sich den Feinden gegenüber so beherrschen kann, und,
wie hätte sich ein einziges Volk unter den Heiden behaupten können, wenn man
ihn nicht gefürchtet hätte?" (Joma 69b).
Man sieht, dass man es hier nur mit einer Vermutung zu tun hat.
Alle Angaben lassen den Schluss zu, dass dieses Kollegium seit dem
babylonischen Exil bis zum Anfang der griechischen Ära bestanden hat.
Neben Esra werden als Mitglieder dieser Synode noch genannt: Serubabel,
Nehemia und Mardekai (Raschi zu Abot 1, 2), also Männer, von denen der
Talmud nichts mehr weiß, als von ihnen in der Bibel berichtet wird. Erst mit
Simon dem Gerechten beginnt sich das Dunkel aufzuhellen. Zum ersten Mal
tritt uns in ihm ein Talmudlehrer entgegen, über dessen Leben und Wirken der
Talmud anscheinend aus einer sicheren Tradition zu berichten weiß. Aber es
ist wie ein Aufblitzen in finsterer Nacht.
Von Antigonos aus Soko, dem Nachfolger Simon des Gerechten, wird nichts
weiter berichtet, als dass er gelehrt hat: "Dienet dem Herrn nicht des
Lohnes wegen, sondern uneigennützig."
An diesen Bericht knüpft sich die folgende Sage: Die Schüler des Antigonos,
Zadok und Boethus, haben diesen Spruch ihren Schülern und diese wieder ihren
Schülern mitgeteilt. Die letzteren nahmen an diesem Spruch Anstoß. "Hätten
unsere Lehrer," sagten sie, "an eine jenseitige Belohnung geglaubt, so
würden sie nicht auf den Lohn verzichtet haben. Wenn es aber nach dem Tode
keine Belohnung gibt, wollen wir uns wenigstens im Diesseits gütlich tun."
Aus ihnen, schließt die Sage, entstanden die Parteien der Sadduzäer
und Boethusäer (Abot des Rabbi Nathan 5, 1).
Wer auf Antigonos gefolgt ist, wird nicht berichtet. Nach einer Lücke von
nahezu anderthalb Jahrhunderten taucht das erste Paar auf. Von nun an tritt
die talmudische Epoche ans Tageslicht. Immer grösser wird die Zahl der
Talmudlehrer und immer deutlicher zeichnen sich ihre Züge ab. Wir erfahren,
dass alle Staatsämter in ihren Händen lagen: die Gesetzgebung, die
Rechtsprechung, der Kultus, die ganze Staatsleitung.
Das Institut, das alle diese Funktionen vereinigte, hieß Synhedrion.
An seiner Spitze standen der Nasi (Oberhaupt) als Präsident und der Abbetdin
(Aw Bet Din) als Vizepräsident. Die Anzahl der Mitglieder belief sich auf
siebzig. Sie führten die bereits erwähnten Titel "Rabbanan", unsere Herren,
"Chakamim", die Weisen, und "Sekenim", die Ältesten.
Diese Bezeichnungen erlangten sie durch die "Semika" (Smichah), die Weihe
der Handauflegung. Die Sitzungen fanden im Tempel zu Jerusalem statt, an den
Wochentagen in einer "Lischkath hagasit", Quadernhalle, genannten Abteilung,
an den Sabbat- und Feiertagen, da das Gedränge im Tempel zu groß war, im
"Chajil", Vorhof. Unter den öffentlichen Angelegenheiten, mit denen sich das
Synhedrion zu befassen hatte, werden unter anderen angeführt: Anklagen gegen
falsche Propheten und Kriegserklärungen. Neben diesem großen Synhedrion
bestanden auch noch in Jerusalem, ebenso wie in der Provinz, kleine
Synhedrien, von denen ein jedes sich aus dreiundzwanzig Mitgliedern
zusammensetzte und von einem "Mufla", Exzellenz, geleitet wurde. Diese
Gerichtshöfe befassten sich mit Strafsachen. Für Zivilprozesse, die
Festsetzung des Schaltjahres und die Ordinierung der Ältesten waren kleinere
Gerichtshöfe, die drei bis fünf Mitglieder zählten, zuständig (s. Synhedrin
1.1).
Vergleicht man diese talmudischen Angaben mit den anderen Quellen über die
Pharisäer, dann sieht man sich vor mannigfachen Rätseln.
Dass von den Pharisäern eine ununterbrochene Traditionskette bis zu Moses
hinauf nicht laufen kann, haben wir bereits bei der Gegenüberstellung des
biblischen und talmudischen Judentums gesehen. Es ist kaum denkbar, dass ein
Moses, Samuel, David oder Jesaias so gedacht und gelebt haben, wie die
Pharisäer. Selbst ein Esra, von dem man vermutet, dass er das talmudische
Judentum begründet hat, weist doch einen ganz anderen Charakter als die
Pharisäer auf. Wann und aus welchen Ursachen sind sie in Wirklichkeit
hervorgegangen?
Wir wissen aus der Bibel, dass die siebzig Männer, die Moses bei der Leitung
der öffentlichen Geschäfte unterstützten, "Sekenim" genannt wurden (4.B.M.
11,24). Wie sind sie zu den Titeln "Rabbanan" und "Chakamim" gekommen?
Josephus, das Neue Testament und die Kirchenväter legten, wie bereits
erwähnt, diesen Männern, von denen Jesus sagt, dass sie auf dem Stuhle Moses
sitzen und sich gerne Rabbi nennen lassen (Matth. 23,1-7), den Namen
"Pharisäer" bei, eine Bezeichnung, die aus dem hebräischen "Peruschim", die
Abgesonderten, gebildet ist.
Der Talmud aber lehnt diese Benennung ab. Er führt sie nur dann an, wenn sie
von ihren Gegnern, den Sadduzäern (Zdukim), in direkter Anrede angewendet
wird. Z.B.: Es sagten die Sadduzäer: "Wir klagen Euch an, Ihr Pharisäer..."
(s. Pharisäer).
Welche Bewandtnis hat es mit dieser Absonderung und warum meidet der Talmud
diese Bezeichnung? Das Neue Testament spricht häufig von "Schriftgelehrten
und Pharisäern" (Matth. 23,2 u.a.a.St.). Sind damit zwei Parteien gemeint
oder sollen dadurch zwei Eigenschaften derselben Partei hervorgehoben
werden?
Die Rolle, die der Talmud diesen Rabbanan oder Chakamim zuschreibt, steht in
einem Widerspruch zu den Angaben, die die anderen Quellen über sie machen.
Im Neuen Testament wird das Synhedrion zweimal erwähnt. Das erste Mal, als
es über Jesus verhandelte, das zweite Mal, als die Apostel angeklagt werden.
Im Jesu-Prozess wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die Leitung in den
Händen des Hohenpriesters lag. Dem Talmud zufolge aber hätte der Nasi oder
der Abbetdin an der Spitze stehen müssen. In der Verhandlung gegen die
Apostel wird Gamaliel, der nach dem Talmud um diese Zeit als Nasi fungiert
haben musste, als gewöhnliches Mitglied angegeben: "Da stand auf ein
Pharisäer mit Namen Gamaliel" (Apostelgesch. 5.34).
Auch aus den Berichten des Josephus geht unzweideutig hervor, dass an der
Spitze des Synedrion nicht der Nasi, sondern der Hohepriester gestanden hat.
Ebenso unklar ist die Geschichte der Sadduzäer, die als Gegner der Pharisäer
einen starken Einfluss auf die Entwicklung des talmudischen Judentums
ausgeübt haben. Die bereits erwähnte Erzählung von der Entstehung der
Sadduzäer und Boethusäer erweist sich schon bei einer äußeren Betrachtung
als eine verschwommene Sage. Es ist nicht zu ersehen, welche Rolle die
Schüler des Antigonos, Zadok und Boethus, bei der Gründung der nach ihnen
genannten Parteien gespielt haben.
In der bloßen Tatsache, dass sie den Spruch ihres Lehrers
weitergegeben haben, kann doch kaum der Grund dafür liegen. Dennoch bietet
diese Sage einen Anhaltspunkt für die Zeit, in der der Talmud sich die
Entstehung dieser beiden Parteien gedacht hat. Wenn er die Schüler des Zadok
und Boethus den Spruch des Antigonos ihren Schülern mitteilen und diese ihn
wieder ihren Schülern weitergeben, und erst dann die Gründung der genannten
Parteien erfolgen lässt, so muss er sich diese Begebenheit vier Generationen
nach Alexander dem Grossen gedacht haben, also etwa im zweiten
vorchristlichen Jahrhundert, zur Zeit des Makkabäeraufstandes. Ein zweiter
Punkt, der aus dieser Erzählung festgestellt werden kann, ist, dass der
Talmud den Sadduzäern ebenso, wie es Josephus tut, einen epikuräischen
Charakter beilegt. Sonst sind die Züge, die er von ihnen entwirft,
widerspruchsvoll und unklar. In den Streitfragen zwischen den Sadduzäern und
den Pharisäern zeigen sich die ersteren weit engherziger als die letzteren.
Sie klammern sich ängstlich an das Schriftwort, so dass die Pharisäer ihnen
gegenüber als Fortschrittsmänner gelten können. Man gewinnt den Eindruck,
dass die Sadduzäer durchaus keine Freigeister waren, wie man es aus ihrer
epikureischen Lebensweise hätte vermuten müssen. Nur über zwei Punkte
stimmen alle Quellen überein: dass die Sadduzäer die Überlieferung der
Väter, also den Talmud, verwarfen und an die Auferstehung der Toten nicht
glaubten. Wegen dieser beiden Punkte wurden sie von den Pharisäern als
Ketzer bekämpft. Es leuchtet nun ein, dass sie in einem Synedrion, das von
einem pharisäischen Nasi geleitet wurde und nur ordinierte Mitglieder hatte,
nicht geduldet werden konnten. In der Tat bezeugt der Talmud ausdrücklich,
dass sie bereits unter Schimon ben
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Schatach, der zum dritten Paare gehörte, aus dem Synedrion ausgestossen
wurden. Ferner wird berichtet, dass die Pharisäer das Gesetzbuch der
Sadduzäer aufgehoben hätten. Beide Ereignisse wurden sogar zu Festtagen
eingesetzt. Hingegen geht aus dem Neuen Testament unzweideutig hervor, dass
die Sadduzäer zur Zeit Jesu sich an den Verhandlungen im Synedrion beteiligt
haben (Apostelgeschichte 23, 6), und dass der Hohepriester die Leitung des
Synedrion wie überhaupt aller Staatsangelegenheiten in Händen hatte.
Bei der Verworrenheit und Lückenhaftigkeit der Quellen ist es nicht zu
verwundern, dass die,Geschichtsforscher bis auf die Gegenwart fast über alle
diese Parteien betreffenden Punkte streiten. Merkwürdigerweise ist die
Frage, wann die Pharisäer entstanden und wie sie zu ihrem Namen gekommen
sind, bisher fast ganz ausser acht gelassen worden. Nur über ihr Verhältnis
zum Synedrion beim Jesuprozess sind nähere Untersuchungen angestellt worden,
und hierin gehen die Meinungen auseinander. Manche suchen den Widerspruch
zwischen den talmudischen und neutestamentlichen Angaben über die Person,
die an der Spitze des Synedrion gestanden hat, dadurch zu lösen, indem sie
behaupten, dass das grosse Synedrion vom Nasi geleitet worden wäre, der
Jesuprozess aber hätte vor dem kleinen Synedrion stattgefunden, dem der
Hohepriester vorgestanden hätte. Eine Behauptung, die sich schon auf den
ersten Augenblick als durchaus unhaltbar erweist. Schon dass der
Hohepriester einen niedrigeren Rang als der Nasi eingenommen hätte, ist
unwahrscheinlich. Wir haben auch gesehen, dass das kleine Synedrion von
einem Mufla, also einem pharisäischen Rabbi, geleitet wurde. Andere wiederum
verwerfen die talmudischen Angaben und halten sich an das Neue Testament,
das ausdrücklich bezeugt, dass der Hohepriester diesen Prozess geleitet hat
und die Pharisäer sich daran nur als gewöhnliche Mitglieder beteiligt haben.
Ebenso gehen die Ansichten über
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die Entstehung der Sadduzäer auseinander. Ein neuerer Geschichtsforscher —
Abraham Geiger — hat die Hypothese aufgestellt, dass der Stammvater der
Sadduzäer jener Hohepriester Zadok war, der bereits unter Salomon eingesetzt
wurde. Da von diesem Hohepriester tatsächlich alle späteren Priester
abstammen, mussten die Sadduzäer die Vertreter des legitimen Priestertums
gewesen sein. Wir stehen also vor der unglaublichen Tatsache, dass die
Pharisäer in ihnen die ganze priesterliche Institution verworfen hätten,
dennoch wissen wir aus dem Talmud, dass das Priestertum von den Pharisäern
sowohl als auch von ihren Nachfolgern aufs innigste verehrt wurde. Noch bis
auf die Gegenwart geniessen die Priester bei den Juden die höchsten Ehren.
Eine andere Frage ist, welcher Wert den Quellen, mit denen wir es hier zu
tun haben, beigemessen werden kann. Die ältesten talmudischen Werke sind,
wie bereits hervorgehoben, erst in der tannaitischen Zeit entstanden. Ihre
Verfasser haben also über die Pharisäer und Sadduzäer nicht mehr aus eigener
Anschauung berichten können. Dazu kommt noch, dass sie, die von den
Pharisäern abstammen, in der Beurteilung der Verhältnisse, die zwischen
diesen beiden Parteien geherrscht haben, voreingenommen waren. Man gewinnt
auch aus ihren sonstigen historischen Berichten den Eindruck, dass sie die
geschichtlichen Zusammenhänge nicht immer richtig zu erfassen vermocht
haben.
Die Verfasser des Neuen Testaments waren wohl imstande, die beiden Parteien
aus eigener Anschauung zu beurteilen, aber sie waren nicht minder
voreingenommen als die talmudischen Berichterstatter. Das ist am
deutlichsten aus dem hässlichen Charakterbild ersichtlich, das sie von den
Pharisäern entwarfen. Wie ganz anders spiegelt sich der Charakter dieser
Partei im Talmud!
Gewiss, die talmudischen Berichterstatter sprechen hierüber in eigener
Sache. Aber man kann doch von einem
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noch so voreingenommenen Zeugen die Wahrheit erfahren, wenn man sich an die
Aussagen hält, die er ohne Absicht macht. Solche indirekten Zeugnisse sind
in den "Sprüchen der Väter" enthalten, die die Mischna von den Pharisäern
überliefert. Wir greifen aufs Geratewohl einige heraus: "Dein Haus sei jedem
offen und behandle die Armen so, als wenn sie deine Kinder wären." —
"Verschaffe dir einen Lehrer und erwirb dir einen Freund und beurteile jeden
von der guten Seite." — "Liebe das Handwerk und hasse das Rabbineramt." —
"Liebe den Frieden und liebe die Geschöpfe." — "Wer sich an die
Öffentlichkeit drängt, verdirbt, und wer die Lehre zum Geschäft macht, geht
zugrunde." — "Sprich wenig und tue viel und komme jedem freundlich
entgegen." — "Blicke auf drei Dinge und du wirst nie zur Sünde kommen: dass
du von einem verfaulten Tropfen herkommst, dass dein Körper ein Frass der
Würmer werden, deine Seele aber vor dem König der Könige Rechenschaft
ablegen wird." — "Wenn du viel gelernt hast, mache nichts damit her. Dazu
bist du ja da." — "Wer ist weise? Der von jedem lernt." — "Wer ist stark?
Der seine Leidenschaften bezwingt. Wer ist reich? Der mit dem zufrieden ist,
was er hat." — "Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden sind die Grundpfeiler
der weltlichen Ordnung," sagt Simon, der Sohn Gamliels, mit dem die
pharisäische Periode abschliesst.
So haben die Pharisäer nicht bloss gesprochen, sondern auch gelebt.
Nach der Niederwerfung ihres unter Hadrian stattgefundenen Aufstandes wurde
den Juden die Ausübung ihrer religiösen Bräuche bei Todesstrafe verboten (s.
Barkochba). Wegen eines solchen Vergehens wurde unter anderen der Tannaite
Akiba, der unmittelbar nach dem Abschluss der pharisäischen Periode gelebt
hat, ergriffen. Es wurde ihm die Freilassung in Aussicht gestellt, wenn er
sich von seiner Religion lossagen würde. Er aber lehnte ab. Zur Begründung
führte er folgendes Gleichnis an. Einst waren
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die Fische im Meere von Netzen bedroht. Da riet ihnen der am Ufer stehende
Fuchs, sie sollten sich doch zu ihm ans Ufer retten. Darauf erwiderten sie:
"Wenn wir im Meere nicht mehr sicher sind, wie sollten wir bei dir
Sicherheit finden?" Akiba wurde auf eine grausame Weise hingerichtet. Er
starb mit dem Bekenntnis auf den Lippen: "Höre, Israel, der Herr, unser
Gott, ist ein einziger Herr!"
Das sind die Männer, von denen Jesus sagte: "Nach ihren Werken sollt ihr
nicht tun; sie sagen's wohl und tun's nicht." "Sie sitzen gerne obenan über
Tisch und in den Schulen und haben es gerne, dass sie gegrüsst werden auf
dem Markt und von den Menschen Rabbi genannt werden." Das sind die
Schriftgelehrten und Pharisäer, denen er zurief: "Ihr Heuchler, die ihr
verzehntet die Minze, Till und Kümmel und lasset dahinten das Schwerste im
Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Die ihr der
Witwen Häuser fresst und wendet lange Gebete vor! Die ihr gleich seid wie
die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig
voll Totenbeinen und alles Unflats sind!"
Wenn man diese Übertreibungen der Wirklichkeit gegenüberstellt und bedenkt,
dass sie nahezu zwei Jahrtausende lang das Urteil über diese Männer zu
trüben vermocht haben, möchte man mit Pilatus verzweifelt ausrufen: "Was ist
Wahrheit?"
Am geeignetsten, ein getreues Bild über die Entstehung und den Charakter
unserer beiden Parteien zu geben, wäre Josephus Flavius gewesen. Wer aber
über die Geschichte seines Volkes schreibt, kann sich von den Grundsätzen
leiten lassen: "Ich liebe Sokrates, ich liebe Plato, die Wahrheit aber mehr
als alle", oder "Recht oder Unrecht, mein Vaterland." Josephus ist dem
letzteren Grundsatze gefolgt (s. Josephus).
Zu der Unzuverlässigkeit unserer Quellen kommt noch, dass sie über die
Entstehung und den Charakter unserer Parteien ein durchaus lückenhaftes Bild
geben.
Fromer, Der T»lmud. 2
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Aber aus noch so wahrheitsgetreuen und ausführlichen Bc-richien sind wir
nicht imstande ein getreues Abbild von der Wirklichkeit zu gewinnen, da die
blossen Worte nicht alle Tatsachen wiedergeben können und ausserdem
vielfachen Deutungen ausgesetzt sind. Man stelle sich vor, jemand, der
irgendeinen Gegenstand noch nie gesehen hat, wollte .sich auf Grund einer
Beschreibung ein ssild von ihm machen. Bei allein Scharfsinn wird ihm nichts
übrigbleiben, als wenigstens ein Exemplar seines Gegenstandes zur
Betrachtung heranzuziehen. In der Tat sehen wir, dass die Naturwissenschaft
bis zum Ausgange des Mittelalters sich ohne Experiment nicht aufschwingen
konnte. Erst mit dem Beginn der Neuzeit, besonders seit dem Auftreten des
Bacon von Verulain und Galilei, da man anfing, die Erfahrung zur Hilfe
heranzuziehen, nahm diese Wissenschaft einen ungeahnten Aufschwung. Den
gleichen Weg muss die Geschichtswissenschaft einschlagen, wenn sie
emporkommen soll. Wohl sind die Ereignisse der Vergangenheit unserer
Beobachtung nicht mehr zugänglich, dennoch sind wir imstande, sie zu
rekonstruieren, wenn wir zwischen dem Wesen und dem Charakter unterscheiden.
Das Wesen ist das Ursprüngliche, der Charakter ist die Färbung, die er durch
die Einflüsse erhält. Handelt es sich um den Charakter eines Volkes, das
noch in der Gegenwart existiert, so können wir ihn als ein Band betrachten,
das sich bis in die fernste Vergangenheit zieht. Es zerfällt in eine Reihe
von Abschnitten, die sich durch die verschiedenen Färbungen, die es durch
die wechselnden Einflüsse erhalten hat, voneinander unterscheiden. Zwei
solcher Abschnitte stellen beispielsweise die biblische und die tahnudische
Epoche des Judentums dar. Aber sie folgen nicht unmittelbar aufeinander.
Zwischen ihnen liegt ein Abschnitt, über dessen Färbung nur äusserst
lückenhafte und unzuverlässige Nachrichten vorhanden sind. So lange wir
seine Beschaffenheit einzig durch die Deutung dieser Nachrichten zu
ermitteln suchen, kommen wir über
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blosse Vermutungen nicht hinaus. Ein deutliches Bild darüber können wir erst
dann gewinnen, wenn wir die Einflüsse, denen die Juden während der erwähnten
beiden Epochen ausgesetzt waren, aufsuchen.
Die Völker, mit denen die Juden in der biblischen Zeit in Berührung gekommen
sind, weisen eine monarchische Regierungsform auf, der eine aristokratische
Kultur entsprach. Alle Quellen menschlichen Wissens und Könnens wurden von
dem Geburts-, Geistes- und Priesteradel vor dem Volke bewahrt. Damit es zu
dieser seinen Sittlich-keits- und Ordnungssinn gefährdenden Nahrung nicht
gelange, bediente man sich beim Gedankenaustausch einer dem Volke
unzugänglichen Sprache oder Schrift und einer Ausdrucksweise, die selbst den
Eingeweihten oft dunkel blieb. Einzig die Religion wurde dein Volke in einem
der Minderheit guUUiukcnüen Masse zugänglich gemacht. Eine Literatur, <)io
'.»uslimmi gewesen wäre, die Massen zu belehren und aufzuklären, gab es
nicht. Durch die Entziehung jeder Wissensnahrung verkümmerte der Volksgeisf:
und konnte sich über seine primitive Anschauungsweise nicht erheben. Die
Vernachlässigung und Verachtung der unteren Schichten rächte sich wiederum
an der aristokratischen Minderheit, wie die Vernachlässigung und Verachtung
der Sinneserfahrung an der Philosophie. Die aristokratische Kultur konnte
sich wohl zu einer beträchtlichen Höhe erheben. Aber ihr fehlte die starke,
weitragende Wurzel. Ihr Leben war kurz und fruchtlos, sie hatte keine
Werbekraft, hinterliess keine Spur.
Dem Einfluss dieser Völker entspricht die naive Religiosität und schlichte
Denkart, die wir bei den Juden während der biblischen Zeit wahrgenommen
haben. Nicht minder naiv zeigen sich ihre geistigen Führer dieser Zeil, die
Propheten und Bahnbrecher. Weltfremd treten sie an diese dumpfen Massen mit
ihren guten und edlen, aber verworrenen und undurchführbaren Idealen heran,
suchen in ihrer Unkenntnis der menschlichen Natur diese an der
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niedrigsten Stufe der Ethik haftenden Menschen zur Heiligkeit
hinaufzuzerren, um als Narren davongejagt und gesteinigt zu werden.
Erst mit dem Auftauchen Alexander des Grossen im Orient machen sich bei den
Juden neue Einflüsse geltend. Die Regierungsform der Hellenen war selbst da,
wo ein König, ein Tyrann oder eine Oligarchie an der Spitze stand,
wesentlich demokratisch. Ihr entsprach eine demokratische Kultur. Damit
möglichst viele an ihr teilnahmen, bediente man sich im Gedankenaustausch
einer volkstümlichen Sprache und einer klaren und gemeinverständlichen
Ausdrucksweise. Die in breiten Strömen freifliessende geistige Nahrung
intellektualisierte das Volk und schaffte jene Basis, auf der allein eine
dauerhafte, einflussreiche und weltbezwingende Kultur sich erheben konnte.
Es leuchtet ein, dass ein solcher Einfluss dem jüdischen Charakter die neue
Färbung geben musste, die wir in der talmudischen Epoche wahrnehmen. Aus den
Quellen aber ist nicht ersichtlich, wie diese Einwirkung sich gestaltet hat.
Nur so viel erfahren wir aus den Makkabäerbüchern, die über die Ereignisse
berichten, die sich etwa anderthalb Jahrhunderte nach dem Einströmen der
griechischen Kultur in Palästina innerhalb des Judentums abgespielt haben,
dass das Judentum auf diesen Einfluss zentrifugal und zentripetal reagiert
hat. Zu jener Zeit, heisst es, traten "böse Leute" auf, die zum Abfall vom
Judentum zur griechischen Kultur gepredigt haben. Dieser zentrifugalen
Strömung gegenüber setzte die zentripetale ein, die auf die Erhaltung des
Althergebrachten bedacht war. Welchen Verlauf diese Strömung genommen hat,
ist aus den Quellen nicht näher zu ersehen. Anderthalb Jahrhunderte später,
im Zeitalter Jesu, nehmen wir im Judentum zwei Parteien, die Sadduzäer und
die Pharisäer, wahr. Um zu ermitteln, wie sie beschaffen waren, in welchem
Verhältnis sie zu den beiden früheren Strömungen und zueinander gestanden
haben, betrachten wir die Struktur des
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gegenwärtigen Judentums, ob sich in ihr nicht ähnliche Einflüsse wie die,
denen die Juden seit dem Beginn der griechischen Ära ausgesetzt waren,
geltend gemacht haben. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, seit Moses
Mendelssohn, strömte in das Ghetto der humanistische Geist ein, der der
griechischen Kultur ähnlich war. Infolge dieser Einwirkung bildeten sich bei
den Juden Parteien heraus, die den Sadduzäern und Pharisäern ähnlich sind.
Durch einen Vergleich mit diesen kann man die unzuverlässigen und
lückenhaften Nachrichten über die Verhältnisse jener beiden Parteien
ergänzen und klären in der Weise, wie es der Naturforscher macht, wenn er
aus der Beschaffenheit der seiner Beobachtung zugänglichen Individuen auf
die Beschaffenheit der ganzen Gattung schliesst.
Das ist die Methode, deren wir uns in der folgenden Betrachtung bedienen
wollen. Wir werden feststellen, dass der Wille zum Talmud bei den Juden
bereits seit ihrem Eintritt in die Geschichte vorhanden war, aber nicht eher
zum Durchbruch kommen konnte, bis sie mit dem hellenistischen Geist in
Berührung kamen. Es wird sich dann zeigen, wie aus diesem Einfluss die
Sadduzäer und die Pharisäer hervorgegangen sind. Durch einen Vergleich mit
der Parteistruktur des gegenwärtigen Judentums soll ihre Beschaffenheit und
ihr Verhältnis zueinander festgesetzt werden. Dann werden wir zu der
Tätigkeit der Pharisäer als Talmudlehrer übergehen und zeigen, wie sie den
Grund zu der talmudischen Literatur gelegt haben. Wir werden dann weiter die
Entwickelung dieser Literatur bis zum Abschluss des babylonischen Talmud bis
auf alle Einzelheiten verfolgen. Auf diese Weise werden wir ein Bild von dem
Charakter des talmudischen Judentums gewinnen. Das ist der geschichtliche
Teil dieser Schrift. In dem zweiten Teil werden wir zu einer Betrachtung des
Wesens und der Zukunft des talmudischen Judentums übergehen.

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In 12 Bänden:
Der Babylonische Talmud
Übersicht: Talmud
Zum Inhaltsverzeichnis:
Judentum / Jahaduth
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Jüdische Religion aktuell
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