Jochanan ben Sakkai, Babylonischer Talmud
Bisweilen heißt es, dass die jüdische Theologie kaum über die
Eigenschaften Gottes reflektiert. Obwohl das vermutlich zutrifft, haben sich
die Rabbinen des Talmud gelegentlich doch gefragt, wie Gott seinen Tag
verbringt. Sie haben diese Frage an verschiedenen Stellen auf
unterschiedliche Weise beantwortet: Er arrangiert Ehen. Er sitzt über
Menschen zu Gericht. Er legt einen riesigen Gebetsmantel und Gebetsriemen um
und betet.
Meine Lieblingsantwort steht jedoch im Traktat
Avoda Sara,
in dem über die Beziehungen von Juden und Götzendienern debattiert wird.
Dort offenbaren die Rabbinen, Gott bringe drei Stunden seines Tages damit
zu, Tora und Talmud zu lernen.
Ich liebe diese Antwort unter anderem deshalb so, weil sie mich in meiner
eigenen Wahrnehmung des Talmud bestärkt:
Er ist von einer solchen Unermesslichkeit und Komplexität, dass selbst Gott,
der doch sein eigenes Buch gut kennen sollte, einen Teil jedes Tages damit
zubringen muss, es zu studieren. Die Vorstellung, dass Gott den Talmud
lernt, bringt zudem recht schön zur Geltung, dass es nicht einfach nur auf
den Inhalt des Buches ankommt, sondern auch auf den Vorgang, sich mit ihm zu
beschäftigen. Auch das empfinde ich als großen Trost. Denn wenn ich eine
Ausgabe des Talmud betrachte - die elf Traktate der Ordnung Seraim
(Saaten; Landwirtschaftliches), die zwölf Traktate der Ordnung Moed
(Festzeiten), die sieben Traktate der Ordnung Naschim (Frauen; Ehe-
und Familienrecht), die zehn Traktate der Ordnung Nesikin
(Schädigungen; Zivil- und Strafrecht), die elf Traktate der Ordnung
Kodaschim (Heiliges; Opferwesen), die zwölf Traktate der Ordnung
Teharot (Reinheitsbestimmungen), ganz zu schweigen von den vielen
apokryphen, erst nach der Mischna entstandenen Traktaten sowie der Unzahl
der bis heute von all diesen Bänden hervorgebrachten Kommentare und der
Kommentare zu den Kommentaren -, droht mich mein Mut ebenso im Stich zu
lassen wie mein intellektuelles Fassungsvermögen.
Selbstverständlich kann mich das gleiche Verlorenheitsgefühl überkommen,
wenn ich die Sonntagsausgabe der New York Times sehe oder die
domestizierte Galaxie des Cyberspace betrete. Viel zu viel, möchte ich
schreien. Unendlichkeit liegt hinter mir und vor mir. Wie soll ich hier
einen Raum finden für das, was ein Schabbatlied als »meine einsame Seele«
bezeichnet? Ich fürchte, mit meinen begrenzten Fähigkeiten werde ich nicht
einmal imstande sein, einen stabilen Ankerplatz in der Vergangenheit
anzusteuern, von dem aus ich der zukünftigen Informationsflut standzuhalten
vermag.
Vielleicht ist es schon immer so gewesen. In einem schönen Essay mit dem
Titel »On Not Knowing Greek« (»Von der Unkenntnis des Griechischen«)
behauptet Virginia Woolf, es sei eitel und töricht, von der Kenntnis des
Griechischen zu sprechen, wir wüssten ja eigentlich nichts von dieser alten
Sprache. Ihre Geheimnisse - die Aussprache der Worte, all ihre Nuancen -
sind mit den Menschen, die sie sprachen, verloren gegangen. Wie wurde eine
griechische Tragödie aufgerührt? Wie klang sie? Wir können allenfalls
darüber spekulieren, da wir von dieser Welt durch einen Abgrund getrennt
sind, »den die große Flut europäischen Geplappers nie wird überbrücken
können«. Laut Virginia Woolf trennt ein ungeheurer Bruch in der Tradition,
trennen Zeit und Kultur die Männer und Frauen der Moderne von der lebendigen
Welt der griechischen Antike.
Doch obwohl die Tora so alt ist wie Sophokles, kann ich so nicht meine
eigene Ignoranz rechtfertigen. Ich erinnere mich daran, wie einer meiner
Lehrer in der jüdischen Nachmittagsschule unserer Klasse von dem
talmudischen Wissen der bedeutenden Gelehrten der Vergangenheit und
Gegenwart erzählte, von Männern, die den gesamten Talmud so gut kannten, daß
sie, stach man eine Nadel durch irgendeine der Tausenden von Talmudseiten,
nicht nur den Satz oder das Wort, sondern sogar den Buchstaben nennen
konnten, den die Nadel auf der anderen Seite des Blattes aufspießte. Ich
dagegen kann mich selbst an die Reihenfolge der fünf Bücher Mose nur
erinnern, wenn ich den Merksatz »General Electric lightbulbs
never dim« vor mich hersage, den ich als Kind als
Gedächtnisstütze für Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri
und
Deuteronomium gelernt habe.
Das Wunder besteht darin, dass ein Gespräch, das vor zweitausend Jahren
begann, noch immer andauert. Nach der Lehre der Rabbinen hat Gott Moses die
schriftliche Tora gegeben, ihm aber zugleich die mündliche Tora,
einschließlich aller letztlich im Talmud aufgezeichneten Diskussionen, ins
Ohr geflüstert. Unabhängig davon, ob man diese Darstellung akzeptiert oder
nicht, steht doch zweifelsfrei fest, dass viele der Worte, die in der von
Jochanan ben Sakkai im ersten Jahrhundert u. Z. nach Jawne verlegten
Jeschiwa rezitiert und gelernt wurden und schon damals Kopfzerbrechen
verursachten, durch die Jahrhunderte hindurch weitergeflüstert wurden und zu
keiner Zeit in Vergessenheit geraten sind. In einem »Weitersage-Spiel« von
so langer Dauer kommt es zwangsläufig zu Missverständnissen. Das
Erstaunliche aber ist, daß die Überlieferung im großen und ganzen keine
Unterbrechung erfuhr.
...
Das Gefühl der Unmittelbarkeit des Talmud, trotz seiner archaischen
Patina, verstärkt sich dadurch, dass er sich, obgleich um etwa 200 u.Z.
erstmals niedergeschrieben und im sechsten Jahrhundert u.Z. kodifiziert,
nicht besonders viele Gedanken über das Vergehen der Zeit zu machen scheint.
Ein Rabbi eines Jahrhunderts kann mit einem anderen, bereits mehrere
Jahrhunderte zuvor verstorbenen streiten, als befände er sich mit ihm im
gleichen Raum. In diesem Sinne ist ein jeder im Talmud lebendig. Darum ist
das Lernen des Talmud so, als spräche man unmittelbar mit den Rabbinen, die
ihn verfassten. Um mit ihnen diskutieren zu können, muss man allerdings ihre
Sprache erlernen, und das ist alles andere als einfach.
Der Talmud in meinem Bücherregal gehörte dem Großvater meiner Frau. Er
steht dort in seinem ganzen Umfang wie ein nicht ausgepackter Koffer aus der
Diaspora, der von Babylonien über Venedig und Polen gereist ist, beladen mit
dem in zweitausend Jahren angesammelten Wissen. Und wenn ich ihn betrachte,
denke ich bei mir: Wie um alles in der Welt soll ich ihn hochheben,
geschweige denn in die nächste Generation weitertragen?
...
Als meine Bar Mizwa nahte, beschloß ich, trotz meiner begrenzten Bildung
die ge-samte parascha, also den ganzen Toraabschnitt für diese Woche,
zu rezitieren, anstatt den Hauptteil der Verse dem Kantor zu überlassen, wie
es in meiner Synagoge üblich war. Anstatt nur eine einzige alija -
eine der Untereinheiten, in die sich der \\ ochcnabschnitt gliedert - auf
mich zu nehmen, gelobte ich mir, ihn ganz zu meistern.
Ich empfand unglaublichen Stolz über meine Bemühungen. Mein Vater hatte
einst, als Junge in Europa, seine gesamte p.-iiJifcJia rezitiert. Ich
hoffte, mein Vortrag werde zu seiner Kindheit zurückführen, ein Akt der
Wiederherstellung und XViedcrgewinnung sein.
Es wurde ein völliges Fiasko. Hätte mir doch nur jemand die
Beschwörungsformel beigebracht, die »Potach, den Fürsten des Vergessens« auf
Abstand zu halten vermochte. Hätte mich nur jemand die Tora gelehrt! Ich
hatte lediglich ein ein-'.tündiges Kauderwelsch auswendig gelernt. Als ich
am Lesepult stand, war mir plötzlich alles entschwunden, was die Torarolle
nicht zeigte und ich hinzufügen mußte - Vokale, Kantillation, Satzpausen -,
es war mir wohl bis zurück ins ei sie Jahrtausend v. u. Z. entflogen.
Ich w -ünschte, ich hätte damals begriffen, daß selbst der gesamte
Abschnitt, den ich zu »lernen« beschlossen hatte, k di glich ein B ruchstück
war. Es war ein winziger Teil der fünf Bücher Mose; jedes dieser fünf Bücher
ist in Wochenab-sehnitte -paraschot - eingeteilt worden, die mit
einer haftara, einer Lesung aus den Propheten, verbunden werden. Ich
wünschte, ich hätte erkannt, daß diese Abschnitte in einem Meer von
Kommentaren schwimmen und daß der Kommentar im Judentum nicht als
nebensächlich oder untergeordnet, sondern ebenfalls als Tora, als Lehre,
verstanden wird - ein Begriff, der so umfassend ist, daß er bisweilen alles
in sich einschließt.
Juden besitzen, im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis, sehr wohl ein
»Neues Testament«, nämlich den Talmud. Er umfaßt in Wirklichkeit zahlreiche
»Neue Testamente«, die sich allesamt vom einen zum anderen weiterentfalten
und zu jenem ersten biblischen Testament zurückführen, so daß unklar werden
kann, was zuerst da war, der Bibelvers oder der Kommentar. Die
Unterscheidung ist sogar in gewissem Sinne bewußt verschleiert. Dieses
Wissen hätte mir jede Illusion genommen, ich könnte meinen Abschnitt
meistern, sosehr ich es mir auch wünschte. Und es hätte mich auf die
rabbini-sche Vorstellung vorbereitet, daß es in Wirklichkeit nicht auf die
Beherrschung des Wissens ankommt (wenn natürlich auch nicht Unwissenheit das
Ziel sein kann).
Eine der berühmtesten rabbinischen Geschichten erzählt von einem Mann,
der zum Judentum übertreten möchte. Er geht zu dem Gelehrten Schammai und
bittet darum, ihn, während er »auf einem Fuße stehe«, die gesamte Tora zu
lehren - das ist der talmudische Ausdruck für »in allerkürzester Zeit«
(allerdings war ich sicher nicht der einzige, der sich ausmalte, wie dieser
Mann auf einem Bein durch Babylonien hüpfte). Schammai, der an anderer
Stelle mit der Aussage zitiert wird, man solle »jeden Menschen mit
freundlichem Gesichte« empfangen, ist gleichwohl über dieses Ansinnen so
erzürnt, daß er den Möchtegern-Konvertiten schlägt und aus dem Haus wirft.
Der Mann trifft auf den Gelehnen Hillel und außen dieselbe Bitte. Hillel
lehn ihn eine schöne rabbinische Regel - »Was dir nicht lieb ist, das tue
auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora«; dann aber gibt er dem
Mann etwas mit auf den Weg, das in gewisser Hinsicht häner ist als ein
Schlag: »Und alles andere ist nur der Kommentar«, sagt Hillel zu ihm, »geh
hin und lerne ihn«.
In gewisser Weise überlistet Hillel den faulen Mann, indem er ihn lehrt,
daß einer der wichtigsten Grundsätze des Judentums, abgesehen natürlich von
der Freundlichkeit, das Lernen ist. Der Mann ist im Netz gefangen und lernt
- in der zeitlosen Welt des Talmud -wahrscheinlich noch heute.
Doch selbst wenn man nichts anderes täte als zu lernen, wäre die
unermeßliche Welt des Talmud nicht vollständig zu erschließen. Die
talmudischen Aufzeichnungen weisen Lücken auf, Irnümer bei der
Niederschrift, die unkorrigien weiter-tradien wurden, sowie von späteren
Redaktoren hineingetragene Verwirrungen. Die Gewichte und Maße, die für
viele talmudische Diskussionen so wichtig sind, weichen von unseren ab; die
Zeit wird nach der landwinschaftlichen Uhr einer klimatischen Region
gemessen, in der ich nicht lebe. Es finden sich detailliene, seit
zweitausend Jahren überholte Diskussionen über den Tempeldienst, der mit der
Zerstörung des Tempels durch die Römer untergegangen ist. Es gibt
beunruhigende Fragen, die kein noch so ausgiebiges Studium wird beantwonen
helfen können - etwa danach, welche Autorität die Rabbinen des Talmud
tatsächlich für die Masse ungebildeter Juden hatten, über deren religiöses
Leben sie bestimmten. Und dann ist da das größte aller Geheimnisse:
Wie kann ein Werk, das so eindeutig von Menschen geschaffen wurde, das in
weiten Teilen aus Diskussionen von Menschen besteht, in denen die
miteinander Disputierenden häufig völlig unterschiedliche Auffassungen
venreten, als ein von Gott geschriebenes, zumindest aber von ihm inspirienes
Buch gelten?
Die Antwon besteht angesichts all dessen darin, nicht die Vergangenheit
aufzugeben, sondern einen Weg zu finden, in jedem Bruchstück das Ganze
aufscheinen zu lassen - so wie Hillel es vermochte, dem Konveniten mit einem
einzigen Ratschlag eine dauerhaft ausstrahlende Lehre zu vermitteln, selbst
wenn er ihm sagte, dies sei der Anfang, nicht das Ziel. Hätte ich das
gewußt, so hätte ich mich wohl an meiner Bar Mizwa für eine kürzere
Toralesung entschieden und dennoch eine Möglichkeit gefunden, mich inmitten
eines unendlichen Meeres der Tradition davon tragen zu lassen.
Ich klammere mich deshalb an diese Vorstellung, weil sie mir erlaubt,
mich einem unermeßlichen Wissen verbunden zu fühlen, das ich nicht
beherrsche, und mich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die von
Informationen überquillt, die ich nie ganz erfassen werde. Ich tröste mich
mit einer Lektion, die der Talmud selbst vermittelt: Die Unkenntnis der Tora
ist ein Teil des Lernens der Tora.
Im Traktat Menachot gibt es eine Stelle, in der die Rabbinen
darüber nachdenken, was geschah, als Moses den Berg Sinai erstieg, um die
Tora zu empfangen. Gemäß dieser Darstellung (es gibt allerdings mehrere)
steigt Moses in den Himmel empor, wo er auf Gott trifft, der eifrig damit
beschäftigt ist, die Buchstaben der Tora mit Krönchen zu verzieren. Moses
fragt Gott, was er da tue, und Gott erklärt, in der Zukunft werde ein Mann
namens Akiba, Sohn des Joseph, auftreten, der genau diese Verzierungen der
Buchstaben zur Grundlage von »Haufen über Haufen« jüdischer Lehren machen
werde. Fasziniert bittet Moses Gott, ihm diesen Mann zu zeigen. Moses wird
aufgefordert, sich »hinter die achte Reihe« zu setzen, und plötzlich, wie in
einem Traum, befindet sich Moses in einem Lehrhaus, mitten im Unterricht,
und der Lehrer ist kein anderer als Rabbi Akiba. Moses wurde angewiesen,
sich ganz nach hinten zu setzen, weil dort die jüngsten und unwissendsten
Schüler sitzen.
Akiba, der große Gelehne des ersten Jahrhunderts, erklärt seinen Schülern
die Tora, doch Moses vermag der Unterweisung überhaupt nicht zu folgen.
Alles ist viel zu kompliziert für ihn. Tiefe Trauer erfüllt ihn, doch
plötzlich fragt einer der Schüler Rabbi Akiba, woher er dies wisse, und
Akiba erwidert, dies sei »eine Mose am Sinai überlieferte Lehre«. Als Moses
diese Antwort vernimmt, ist er beruhigt - auch wenn er nicht widerstehen
kann, Gott zu fragen, warum, wenn es doch so brillante Männer wie Akiba
gebe, er, Moses, derjenige sei, der die Tora überbringen solle. An diesem
Punkt verliert Gott die Geduld und sagt zu Moses: »Schweig! So ist es mir in
den Sinn gekommen.«
Der arme Moses, der Mensch, der tatsächlich die Tora überbringt, ist
nicht nur der schlechteste Schüler im Lehrhaus, sondern wird auch noch von
Gott wie ein widerspenstiges Kind zum Schweigen gebracht. Im Vergleich dazu
war meine Bar Mizwa ein Kinderspiel. Nach einer anderen talmudischen
Geschichte verbringt Moses tatsächlich vierzig Tage damit, gemeinsam mit
Gott den Talmud zu lernen, doch nach dieser Zeit hat er alles wieder
vergessen. Damit geht es ihm wie uns allen, die, wie der Talmud erzählt,
schon im Mutterleib die Tora lernen, um dann alles wieder zu vergessen, wenn
ein Engel vor unserer Geburt unsere Lippen berührt - denn die Aufgabe des
Lebens besteht nicht darin, zu wissen, sondern zu lernen.
Nicht nur Gestalten der Vergangenheit fühlen sich unwissend, wenn sie mit
der Gelehrsamkeit der Zukunft konfrontiert werden. Und auch das Umgekehrte
beschreiben die Rabbinen, die von Gefühlen der Unwissenheit und des
Scheitern s heimgesucht wurden - wie konnte es auch anders sein? Sie
übersetzten eine Lebensweise in eine andere. Das Judentum des Tempels wurde
zum rabbinischen Judentum der mündlichen Lehre, die mündliche Lehre wiederum
zur niedergeschriebenen Diskussion, und diese Niederschriften wurden
kodifiziertes Gesetz. Das Ganze war ein gewaltiger fortlaufender Akt des
Übersetzens, und wir wissen, daß beim Prozeß des Ubersetzens stets etwas
verlorengeht. Diese Mischung von endloser Vermehrung und unendlichem Verlust
bietet ein reiches, widersprüchliches Ensemble von Impulsen, das mir als
merkwürdig passend für das heutige Leben erscheint.
Jochanan ben Sakkai, jener Gelehrte, der sich buchstäblich selbst in
einem Sarg aus Jerusalem herausübersetzte, hat einmal gesagt: »Wäre der
ganze Himmel Pergament, wären alle Menschen Schreiber und alle Bäume des
Waldes Schreibfedern, würde es nicht genügen, aufzuschreiben, was ich von
meinen Lehrern gelernt habe; und dennoch habe ich nur soviel von ihnen
aufgenommen, wie ein Hund Wasser aus dem Ozean schleckt.«
Sogar Jochanan ben Sakkai fühlte sich also wie ein Hund, sobald es um das
Lernen des Talmud ging. Aber wenn schon er ein Hund war, was bin dann ich?
Eine Milbe auf dem Rücken eines Flohs auf dem Schwanz eines Hundes - damit
wäre wohl meine Stellung immer noch überbewertet. Doch ich tröste mich
damit, daß das Lernen angesichts der Unendlichkeit des zu Lernenden und das
Eingeständnis des unvermeidlich fragmentarischen Charakters allen Wissens
immer schon Teil des Wesens des Talmudlernens war.
Als T. S. Eliot in The Waste Land (Das wüste Land) schrieb, »Diese
Scherben hab ich gestrandet, meine Trümmer zu stützen«, wollte er damit
sagen, daß er Splitter der westlichen Kultur aus einer noch nicht lange
vergangenen Zeit rettete, in der diese Kultur noch ganz und vollkommen war.
Im talmudischen Universum dagegen waren die Welt und ihre Kultur schon seit
Tausenden von Jahren nicht mehr ganz, wenn dies überhaupt jemals der Fall
gewesen sein sollte. Es ist daher ein idealer Ort, um zu lernen, mit
Bruchstücken umzugehen, Ganzheit angesichts einer den einzelnen
überschwemmenden Flut an Information zu finden, die - ungeachtet ihrer
Überfülle - selbst nicht mehr als Fragmente von Wissen bietet.
Ich habe es nie geschafft, alle Bücher in der Bibliothek meiner Eltern zu
lesen. Und selbst wenn es mir gelungen wäre, hätte es natürlich nicht viel
bedeutet. Was ich als Kanon mißverstand, war lediglich eine aus den
Interessen und Neigungen meiner Eltern sowie der sie prägenden Kultur
zufällig sich formierende Sammlung. Inzwischen sind andere Bücher erschienen
- Hunderte, Tausende, Millionen von Büchern. Mein Computer ist heute ein Tor
zu einer Galaxie von Worten, zahlreicher als die Sterne am Himmel oder der
Sand am Meer.
Gewiß, in dem Maße, in dem die Welt sich immer größere Kreise an
Informationen erschließt, wird deren totale Beherrschung, ja, selbst die
Illusion ihrer Beherrschung undenkbar.
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Das Worid Wide Web wächst jeden Tag um ein Vielfaches; immer mehr
Bibliotheken, Einkaufszentren und Laboratorien locken. Mir scheint, die
Herausforderung - und die Kunst -besteht darin, in der Unendlichkeit
Ganzheit zu finden. Es kann durchaus sein, daß die bloße Existenz des
Internet, der Zugang, den es einzelnen Menschen an völlig unterschiedlichen
Orten ermöglicht, eine demokratische Kultur zu gewährleisten und zu
verbreiten hilft - so wie der Talmud eine Kultur schuf, in der auch
weiterhin ein jüdisches Verständnis Gottes und der Menschheit zu gedeihen
vermochte. Man kann in der modernen Welt leben, jedoch nicht, indem man, wie
T. S. Eliot, die eigene von Brüchen gezeichnete Existenz erbittert mit einer
Vollkommenheitsphantasie konfrontiert, sondern indem man begreift, daß, wie
der Talmud immer schon anerkannt hat. Wissensbeherrschung und Ganzheit seit
jeher ein Trugbild waren.
Die Westmauer in Jerusalem ist das sichtbarste Bruchstück der jüdischen
Geschichte - ein Überrest des Tempels, der jahrhundertelang im Zentrum
jüdischen Lebens stand, bevor er im Jahre 70 u. Z. zerstört wurde. Bevor er
niedergebrannt wurde, hatte Jochanan ben Sakkai sich selbst und eine ganze
Lebensweise aus der Stadt geschmuggelt und in die Jeschiwa nach Jawne
hinübergerettet. Der Überrest der Westmauer ist stets eine Erinnerung daran
gewesen, daß, bei allem Reichtum, der aus der Zerstörung erwuchs, irgend
etwas immer gefehlt hat.
Doch selbst als der Zweite Tempel noch Bestand hatte, fehlte schon etwas
- nämlich der von Salomo erbaute Erste Tempel. Er wurde $86 v.u.Z. zerstört.
Obwohl der Zweite Tempel allmählich aus den Ruinen des Ersten Tempels
wiedererstand, von Generationen aus dem babylonischen Exil zurückkehrender
Menschen wiederaufgebaut, wurde die Mauer, die bis heute überdauert hat,
erst wenige Jahrzehnte vor der endgültigen Zerstörung des Tempels von
Herodes errichtet. Obwohl sie als Zeichen für die Gotteshäuser verstanden
wird, die dort über Jahrhunderte standen, war sie selbst also letztlich ein
Stück moderner Architektur, das sich in nicht geringem
Maße ausgerechnet dem Stil und der Technik jener Römer verdankte, die den
Tempel schließlich zerstören sollten. Und dennoch ist aus diesem einzelnen
Stück einer äußeren Schutzmauer mehr entstanden als aus vielen bis heute
erhaltenen Tempeln. Es sind die Bruchstücke, die uns zu inspirieren
vermögen.
Und so nehme ich eine Talmudseite auf die gleiche Weise wahr wie einen
Computerbildschirm und die Westmauer. Der unvollendete Zustand der Dinge ist
uralt und dauerhart. So heißt es schon im Talmudtraktat Pirke Avot,
in den Sprüchen der Väter. »Es ist deine Obliegenheit nicht, die
Arbeit zu vollenden, doch steht es dir nicht frei, von ihr abzulassen.«
Alles andere, so könnte man sagen, ist Kommentar.
Talmud und Internet:
Eine Geschichte von zwei Welten